„Hol‘ noch was von der Destillationsanlage, Kandas! Ich will nicht verdursten, wenn ich euch arme Teufel fressen muss“
„Du bist doch der Fetteste von uns allen, Towick. Wenn hier einer gefressen wird, dann du“, konterte der Koch.
Kandas mochte keinen Streit und ging deshalb das befohlene Wasser holen.
„Es wird immer der gefressen, der zuerst stirbt, und verhungern, werde ich mit meiner Statur als letztes. Mit deinem Alter wirst du aber zuerst draufgehen du Kombüsenschänder.“
„Aber man verdurstet bevor man verhungert du dämlicher Polleraffe.“
„Wie hast du mich gerade genannt, du dreckiger Hund?“
„Wollt ihr wohl aufhören ihr Saufbolde. Hier liegen schon genug leere Buddeln auf dem Boden. Das Zeug macht euch ja sogar noch blöder, als ihr sowieso schon seid. Zeigt eure verdammte Disziplin und nehmt Feudel und Eimer in die Hände. Ich will, dass bis morgen hier alles glänzt“, ging der Steuermann dazwischen.
„Tausend Höllenhunde nochmal. Wenn du, Mertens, nicht der Blödeste von uns allen bist, dann will ich so schlank werden wie eine von diesen Dockschwalben aus Bridgetown. Ich spreche im Namen von allen, wenn ich dir sage: putz‘ doch selber, du elendiger Lump.“
Mertens Blick wurde strenger. Er ging auf Towick zu und blieb nur wenige Millimeter vor seinem Gesicht stehen.
„Da will mir doch tatsächlich so ein lausiger Schiffsmann, wie du, die Stirn bieten? Du hast wohl vergessen, dass ich der Steuermann bin und du nur ein fetter, ersetzbarer Soldat.“
„Nein, habe ich nicht, aber ich habe auch nicht vergessen, dass du so gescheit wie ein Teller Labskaus bist.“
Mertens fing an zu grinsen, „komm her du spitzzüngiger Teufelskerl! Du würdest selbst noch den Klabautermann beleidigen, wenn er vor dir stünde.“
Mertens umarmte Towick so kräftig, dass ihm fast die Luft wegblieb.
Alle Mitglieder der Mannschaft bejubelten die Umarmung, stießen mit ihren Flaschen an und lachten dabei. Kandas kam mit einem vollgefüllten Eimer zu dem Spektakel zurück und wunderte sich über die extrem freudige Stimmung.
„Bitte sehr! Was habe ich denn verpasst?“
„Nicht viel, ich habe nur mal wieder die Mannschaft an manche Tatsachen erinnert.“
„Ach Kandas, du bist der zweitbeste Schiffsjunge, den ich kenne.“
„Wer ist denn der Beste?“
„Na ich, als ich noch klein war“ grinste Towick verwegen.
Die Flaschen klirrten erneut und jeder versuchte den anderen mit seinem Gegröle zu übertönen.
„Sag mal Towick, warum muss man denn viel Wasser trinken, wenn man gegessen wird? Das habe ich nicht ganz verstanden.“
„Wenn du mehrere Tage ohne Essen und Trinken auf dem offenen Meer herumtreibst und die salzige Luft deinen Körper und deinen Verstand einnimmt, dann musst du vorher ausgiebig Wasser trinken, damit das nicht passieren kann.“
„Seemannsgarn. Nur wenn du Seewasser säufst passiert das. Ob du nun zuvor viel oder wenig getrunken hast ist nicht wichtig. Der einzige Vorteil ist, dass du länger Pissen kannst, wenn du viel säufst“, entgegnete ihm der Koch gereizter.
„Hört auf Kandas Angst zu machen. Man spricht besoffen nicht über nüchterne Angelegenheiten. Hier frisst niemand irgendwen auf.“
„Genau Junge, hör‘ auf Mertens! Das Ding, das der Verrückte jagt, wird uns keine Gelegenheit lassen uns gegenseitig zu fressen.“
Die Stimmung drehte sich wie das Fass, das an Deck hin- und herrollte. Die ganze Mannschaft, die vorher noch lachend an ihren Flaschen hing, wurde leise.
„Ihr sauft doch nur um zu vergessen auf welchem Schiff ihr eigentlich seid. Das hier ist die Agwe und unser Schicksal ist unausweichlich.“
Towick ergriff erneut das Wort um die Moral der Crew zu retten.
„Jeder von uns muss sterben. Also lasst uns vor den Toren der Hölle nochmal gebührend feiern, ehe wir sie durchschreiten müssen.“
„Du fetter Narr. Wir kommen nicht in die Hölle. Was uns erwartet ist tausendmal schlimmer als alles, was ihr euch vorstellen könnt.“
„Was meinst du?“, fragte Kandas den alten Amoka.
„Wir jagen einen Gott.“
Die Mannschaft außer Mertens begann zu lachen.
„So ein Geschwafel. Amoka dreht langsam durch“, scherzte Towick und die anderen Männer der Mannschaft stimmten mit ein.
„Hahaha, warum Gott jagen, wenn uns nur der Teufel interessieren sollte?“
„Nicht den Gott. Einen Gott“, stammelte Mertens.
„Erzähl ihnen von Kapitän Herolds Schicksal, Mertens. Du weißt genauso wie ich, dass es von dieser Reise kein Zurück mehr geben wird.“
„Was meinst du, Amoka?“, fragte Kandas mit mulmigem Gefühl.
„Kapitän Herold begegnete diesem Ungetüm vor mehreren Jahren südlich von Cape Point. Seine Besatzung und er wollten es einfangen, doch sie unterschätzten seine Größe und es wehrte sich. Die ursprüngliche Agwe wurde in Stücke zerfetzt und die Besatzung verschwand nach und nach in den tiefen des Meeres. Bevor das Ungeheuer jedoch Kapitän Herold töten konnte, gelang es ihm ein Stück aus dem Biest herauszureißen. Einige sagen, es wäre ein Stück Herz gewesen und dass das der Grund sei, warum sie sich gegenseitig spüren können.“
„Was ist das für ein Biest?“, wollte Kandas wissen.
„Tlaloc. Der Gott des Meeres. Ein Geschöpf, so alt wie der Ozean selbst“, erwiderte Amoka mit strengem Ton.
„Diesen Unfug glaubst du doch selbst nicht Amoka“, spottete Towick.
„Hüte dich Towick. Es gibt mehr zu fürchten als Tlaloc. Selbst dieses Schiff kann für viele arme Seelen gefährlich werden.“
„Schluss jetzt mit euren Gruselgeschichten. Dein fauler Zauber erschreckt mich schon lange nicht mehr, Amoka. Wenn du mir zeigen willst, wie stark du und deine Magie doch bist, dann sollten wir das wie Männer klären.“
„Ich sehe keinen Grund dazu“, lehnte Amoka abschätzig ab.
„Vielleicht hast du aber einen Grund uns zu erklären, was das an unseren Oberarmen ist.“
Der Raum und alles was darin war verstummte. Die Mannschaft begann untereinander zu tuscheln. Es war so leise, dass man den Wind rauschen hören konnte. Plötzlich begannen die Dielen zu knarzen. Jemand kam die Treppen in die unteren Quartiere herunter.
„Aus dem nichts seid ihr so still, dass ich dachte, man hätte uns geentert und euch allen die Kehle aufgeschlitzt. Was ist hier los?“
Alle erstarrten. Es war Kapitän Herold höchstpersönlich. Er schaute sonst nie während der Reise in die Quartiere der Besatzung.
„Nichts Kapitän, der alte Amoka erzählte uns nur Geschichten von Tlaloc“, versuchte ein Soldat die Situation zu entschärfen.
Suchende Blicke schwirrten durch den Raum.
„Müsst ihr über meine Vergangenheit spotten wie Waschweiber über ihre dreckigen Lumpen? Haltet ihr das alles für einen Scherz, welches Schicksal mir widerfuhr? Bin ich für euch nichts weiter als eine mysteriöse Kuriosität?“
„Wenn ich ehrlich bin Kapitän, dann tun wir das. Wir sind doch keine Knaben mehr, die man mit solchen Gruselerzählungen bändigt. Wir wollen endlich die Wahrheit erfahren, was wir hier jagen. Seit Monaten fahren wir ohne geplante Navigation umher und unsere Geduld geht zuniege. Man hat uns eine sehr gute Bezahlung versprochen, aber wir werden dennoch behandelt wie Sklaven und hingehalten wie ein Haufen räudiger Hunde. Wenn Sie Kapitän bleiben wollen, sollten Sie uns entgegenkommen.“
Unbeeindruckt gab Kapitän Herold ein Handzeichen und die ganze Mannschaft außer Kandas, stürzte sich wie wilde Tiere auf Towick. Kandas wollte eingreifen, doch der alte Amoka ergriff ihn am Arm. Er murmelte etwas und blickte Kandas dabei tief in die Augen. Amokas Blick bohrte sich in Kandas hinein. Tiefer und tiefer, bis er den Schmerz nicht mehr aushielt und sich panisch losriss, um zu Towick und den anderen aufs Deck zu rennen.
Kapitän Herold stand auf dem Oberdeck und richtete sich der Mannschaft zu, die Towick festhielten.
„Du glaubst also das meine Geschichte eine Lüge ist. Ich muss wohl versuchen, dich zu überzeugen.“
Die Seemänner, die Towick auf das Oberdeck zerrten warfen ihn nun zu Boden. Er stand auf und wollte mit seinen bloßen Fäusten die Schädel der Verräter zertrümmern, als er sah, dass Herold seine Steinschlosspistole auf ihn richtete.
„Na los, auf den Bug hinauf!“, befahl der Kapitän gereizt.
Towick schlug mehrfach auf die Bretter des Oberdecks ein, wobei er den Kapitän zornig ansah. Es ertönte ein klicken, als der Lauf der Pistole gespannt wurde. Towick stand schnaubend wie ein Ochse auf. Seine kräftigen Beine schwankten das restliche Oberdeck hinauf und er versuchte auf den Bug zu klettern. Er rutschte ab und fiel beinahe ins Meer, doch Mithilfe seiner starken Arme konnte er sich alleine wieder hochziehen. Als beide seine Knie wieder auf dem Bug halt fanden, richtete er sich wackelig auf.
„Umdrehen!“
„Wenn ich schon ins Meer springen soll, dann gib mir die verfluchte Planke.“
„Ins Meer springen? Pah.“
Kapitän Herold richtete seine Holzhand gen Himmel und anschließend umklammerte er mit den freien Fingern der anderen Hand, das Stück von Tlaloc, das er immer um den Hals trug.
Die See wurde rauer und der Wind nahm zu. Der strahlend blaue Himmel wurde innerhalb von Sekunden zu einem undurchdringbaren Schwarz, das keinerlei Wolkenstruktur erkennen ließ. Aus diesem Dunkel erstrahlten nacheinander blutrote Blitze, die sich, wie ein verwurzelter Baum, aufteilten. Die Mannschaft erschrak und wollte unter Deck in Sicherheit gehen.
„Bleibt gefälligst hier oder der Priester pustet euch die Seele aus euren jämmerlichen Körpern.“
Amoka stand mit einer präparierten Muskete am Eingang und schwenkte ihren Lauf.
„Verflucht Amoka, hast du den Verstand verloren. Das dort oben im Himmel sind Engel. Sie wollen sich für unsere Sünden an uns rächen.“
„Für euch gibt es keinen Gott, keine Engel und keine biblischen Propheten mehr. Von jetzt an bis zu eurem erbärmlichen Lebensende wird es nur noch mich und Tlaloc für euch geben“, verkündete der Kapitän.
„Seht was ein wahrer Gott zu schaffen vermag“, schwärmte Amoka als er Kapitän Herold zusah.
Weit draußen auf dem Meer begann sich eine Welle zu erheben, die auf das Schiff zuschnellte. Towick stand weiterhin wackelig auf dem Bug und sah, wie die Welle immer größer wurde. Der Wind wurde immer stärker und das Segel plusterte sich auf. Towick wollte gerade vom Bug abspringen, doch eine Kugel traf ihm im Oberarm.
„Bleibt alle wo ihr seid!“, kommandierte Kapitän Herold.
„Bring mich doch einfach um!“, knirschte Towick so laut er konnte durch seine Zähne hindurch.
Mit dem verwundeten Arm fiel es ihm schwer sich am Bug festzuhalten.
„Steh auf!“
Towick versuchte erneut sich aufzurichten, doch auf dem glitschigen Bug mit nur einem Arm war das nahezu unmöglich. Seine Beine und der unverletzte Arm schlangen sich um den Bug und er schloss die Augen in der Hoffnung das es gleich vorbei sein würde. Plötzlich griff ihn der Kapitän am Nacken und zerrte ihn nach oben.
„Sieh her!“
Die Welle war nun vier Mal so hoch wie die Agwe und drohte das Schiff ohne Mühe zu zerbersten. Die ganze Mannschaft war starr vor Angst und Kandas klammerte sich an Amoka, der nun auf seiner Muskete lehnte als wäre es ein gewöhnlicher Wanderstock.
Die Welle hielt an und wurde kleiner und kleiner, bis sie als ein Spritzer Gischt an die Agwe platschte.
„Ich bin die See. Ich bin der Gott des Meeres. Ich bin Tlaloc“, schrie der Kapitän.
Towick wollte davon aber nichts wissen und wutentbrannt begann er den Kapitän mit einer Hand zu würgen.
„Ich bin Towick. Ich bin dein Henker“, erwiderte er hasserfüllt.
Kandas stieß sich von Amoka ab und rannte an die Kante zum Oberdeck, um genau zu sehen, was mit Towick und dem Kapitän passierte.
„Ich bin es leid unter deinem Kommando zu segeln, Herold. Wir holen uns unseren Willen wieder zurück. Das ist nun eine Meuterei. Erst kümmere ich mich um dich und dann um deinen Voodoo-Mann Amoka.“
Towick drückte stärker seine Finger in die Kehle des Kapitäns. Kandas kletterte nun auf das Oberdeck und rannte zum Bug.
„Hör auf Towick!“, flehte er ihn an.
Towick schaute zu Kandas und in diesem Moment der Unachtsamkeit, zog Herold einen kleinen Dolch hervor und schnitt damit durch Towicks Handgelenk. Er schrie fürchterlich und ließ den Kapitän fallen. Herold flog neben Kandas zu Boden. Towick glühte nun vor Wut und auch wenn er gleich verbluten würde, so war sein letzter Wille den Kapitän zu töten. Er bäumte sich wie ein Bär auf und wollte mit seiner letzten Kraft und seinen beiden Fäusten jegliche Knochen des Kapitäns zermalmen. Der Kapitän wurde nun ebenfalls sehr zornig und machte einige hektische Bewegungen mit seiner Holzhand. Gerade als Towick auf den Kapitän einschmettern wollte, schlug einer der roten Blitze in ihn ein. Kandas war entsetzt. Da stand sein Freund nun vor ihm: reglos, blutend und entstellt. Er wollte noch nach ihm greifen, doch Towick kippte nach hinten um und schlug auf dem Bugwulst auf. Ohne nachzudenken sprang Kandas von Bord Towick hinterher. Seine Hände spalteten die Wasseroberfläche und er schien in die Tiefe eines unendlichen Abgrundes einzutauchen. Towick sank nur langsam und Kandas konnte ihn erreichen, doch sein lebloser Körper war zu schwer für ihn. Kandas brachte ihn an die Oberfläche, aber es zog ihn immer wieder unter die Wasseroberfläche. Er versuchte Towick anders zu greifen, doch egal was er tat, er wurde immer wieder von Towicks Gewicht hinuntergezogen. Kandas sah schmerzvoll ein, dass er Towick gehen lassen musste, um selbst zu überleben. Seine Finger trennten sich von Towicks Arm und dieser sank in die Tiefe des Ozeans. Kandas tauchte so schnell er konnte auf und rang nach Luft. Alles drehte sich.
„Los, nimm schon“, hörte er eine Stimme rufen.
„Du törichter Schiffsjunge, nimm das verdammte Seil!“
Die Stimme gehörte zu Amoka. Kandas schwang seine Arme unkontrolliert im Wasser umher, bis er das Tau erwischte und reflexartig nicht mehr losließ.
„Zieht Männer! Ein Toter ist für heute genug.“

Kandas schreckte auf. Er saß in einer bizarr-geschmückten und sehr gemütlichen Koje.
„Ruhig Junge“, besänftigte ihn Amoka.
„Was ist passiert?“
„Du wolltest Towick retten und bist von Bord gesprungen. Leider musstest du eine harte Regel lernen, die wir Seemänner alle schonmal erlebt haben. Deswegen werde ich dir nicht sagen, dass es dumm von dir war, aber das nächste Mal solltest du besser abwägen, ob du es erneut wagen möchtest.“
Kandas schaute sich um und entdeckte verschiedene Stoffbeutel und viele kleinere Gegenstände die von der Decke hingen.
„Was ist das?“
„Was meinst du genau?“
Kandas musterte die kleinen Stoffbeutel genau.
„Das ist ja die Mannschaft. Die dicke Puppe ist Towick, der Zinken gehört Mertens und die kleine Puppe da vorne, soll wohl ich sein.“
„Richtig, das ist meine Beschäftigung während den langen Reisen. Als missionierter Schiffspriester, der aus dem Bayou kommt, ist das etwas Traditionelles. Meine Großmutter hat sich schon diesen Puppen gewidmet.“
„Ist das Voodoo? Towick hat dich vor seinem Tod einen Voodoo-Mann genannt.“
„Du bist ein neugieriger Schiffsjunge, das muss man dir lassen. Voodoo ist Magie, Kandas. Es ist ähnlich wie mit allem Anderen: wenn du glaubst, dann ist dein Voodoo stark.“
„Hat deine Magie mich geheilt?“
Amoka lächelte.
„Ruh‘ dich noch etwas aus! Ich werde später nach dir sehen.“
Kandas legte sich hin und schloss die Augen. Er schien zu fallen. Schlief er bereits? Er war doch gerade eben noch hellwach und jetzt stürzte er in einen Sternenhimmel. Alles Schwere wurde liecht und Unten wurde Oben. Er stieg auf. Zu seinen Füßen schwamm die Agwe und am Horizont leuchtete etwas, dessen Farbe er noch nie gesehen hatte. Was war das? Eine Stimme kratzte ihn unangenehm im Ohr.
„Kandas, du musst fliehen. Der alte Amoka und Herold sind Dämonen.“
„Towick? Ich dachte du wärst tot.“
„Nein, mir ist etwas Schlimmeres widerfahren. Ich durfte nicht mal vor die Tore der Hölle. Amoka hatte recht mit dem was er uns sagte. Der Kapitän hat etwas mit uns gemacht, Kandas. Ich habe es erst vor Kurzem erfahren. Wenn du die Oberarme der Mannschaft überprüfst, dann wirst du ein Mal finden. Es kann jedoch mit Blut gebrochen werden. Auf dem Bug konnte ich das erste Mal seit Jahren wieder klar denken. Die Kugel von Herold verformte mein Fleisch genug, dass der Zauber schwächer wurde.“
„Towick, ich kann nicht fliehen. Ich muss verstehen, was auf diesem Schiff vor sich geht und was mit dir passiert ist. Erst dann kann ich mein Leben fortführen.“
„Oh Kandas, finde heraus wieso und gib auf dich Acht! Lass dir gesagt sein, dass bevor Herold dich tötet, du es lieber selbst tun solltest.“
Towicks Stimme war fort und Kandas stagnierte im Sternenbild. Die Agwe war nun so klein, dass er sie auf einem Finger balancieren hätte können. Er blickte in die Leere zwischen den Sternen und fragte sich, ob es wohl einen Unterschied zwischen ihr und den Abgründen der Tiefsee gab, in die Towick verschwunden ist. Sein Kopf senkte sich und nach einer kurzen Überlegung, stürzte er Richtung Meer. Wie eine Sternschnuppe preschte er durch den Himmel und schlug auf dem Wasser ein, in dem sich der Sternenhimmel spiegelte. Er tauchte immer tiefer hinab und um ihn herum wurde es immer dunkler. Kandas war nun so tief, dass es ringsum ihn schwarz war. Selbst wenn er nach oben schaute, war kein Fünkchen Licht mehr zu erkennen. Wie grausam, dachte er. Towick musste als er starb, das hier als Letztes gesehen haben. Nichts als komplette Dunkelheit. Kandas wurde traurig und zornig. Er wollte wieder aufwachen, doch etwas hielt ihn dort unten fest. Orientierungslos versuchte er an die Oberfläche zurückzukehren, doch egal wie lange er in eine Richtung schwamm, er blieb in der Dunkelheit. War er vielleicht im Voodoo von Amoka gefangen. Was sollte er nun tun?
„Towick?“, schrie er verzweifelt. Doch dieser Schrei wurde vom Schwarz sofort verschlungen.
Kandas brüllte es lauter, „Towick?“
Bereits nach dem er den Namen gesagt hatte, verstummte alles wieder. Es war so als würde er in einen Eimer Teer hineinrufen.
Kandas gab auf und seufzte leise, „lieber würde ich sterben.“
Plötzlich riss das Schwarz auf und aus diesem strahlte die Farbe, die Kandas zuvor am Horizont gesehen hatte. Er schwamm in das Licht und gerade als er nach dem Spalt greifen wollte, wachte er auf.
„Komm Kandas, du hast dich nun genug ausgeruht. Herold will dich sehen. Zieh dir was an und dann komm in das Kapitänszimmer! Bitte keinen Schabernack.“
Kandas wartete bis Amoka den Raum verließ, observierte seinen Oberarm und entdeckte immer noch kein Mal. Erleichtert zog er sich an und ging an Deck. Es war windig aber nicht stürmisch und die Sonne schien gerade unterzugehen. Die Mannschaft arbeitete so als wäre nichts in den letzten Tagen vorgefallen.
„Hoy, Mertens, mir geht es wieder besser“, erhellte Kandas den Steuermann.
Dieser ignorierte ihn jedoch nur und konzentrierte sich darauf den Kurs zu halten. Kandas ging weiter nach oben aufs Achterdeck und huschte in die Küche.
„Henry, Amoka hat mir gesagt, dass ich zum Kapitän darf und der schnellste Weg führt ja durch die Kombüse. Lass dich also nicht von mir stören.“
Der Koch ließ sich nicht von Kandas stören und erledigte seine Aufgaben weiter.
„Henry, du warst doch ein guter Freund von Towick. Ist alles gut?“
Henry schwieg weiter.
„Du alter Saufbold, wasch dir auch mal die Hände bevor du Gemüse schneidest.“
Das Einzige was der Koch daraufhin zurückschoss, war ein knubbeliger Karottenstiel, den er kräftig hacken musste. Kandas bemerkte, dass etwas von der Küchenplatte tropfte. Er ging näher hin und sah, dass es Blut war. Entsetzt griff er nach der Schulter des Kochs und drehte ihn um. Seine Augen und sein Mund waren wie bei einem Schrumpfkopf zugenäht und ihm fehlte ein Stück Finger. Rasch drehte sich der Koch wieder um und hackte weiter Gemüse.
Entsetzt rannte Kandas zurück aufs Deck und schaute Mertens genauer an. Dieser war jedoch nicht entstellt. Kandas sprang über das hölzerne Geländer auf ein paar lagernde Fässer, kletterte hinab und drehte an der Reling das nächste Mitglied der Mannschaft um. Es war Jon, sein Gesicht war frei von Fäden oder anderen Verstümmelungen, wie bei Mertens, aber auch er reagierte nicht auf Kandas und ging sofort wieder seiner vorherigen Tätigkeit nach.
“Hoy Jon, was machst du denn da?”
Kandas wurde erneut ignoriert. War er ein Geist?
Plötzlich fiel ihm ein, was Towick ihn in seinem Traum erzählt hatte. Er riss den rechten Ärmel von Jon ab und entdeckte das Mal. Es pulsierte im Oberarm und schien das Blut in die Symbolform umzulenken. Kandas sah, dass Jon ein Messer bei sich trug.
“Es tut mir wirklich leid.”
Kandas nahm das Messer aus der Halterung, die Jon am Gürtel trug und ritzte mit einem geraden Schlitzer durch das Symbol hindurch.
“Verdammt spinnst du, Kandas?”
“Es hat funktioniert”, freute sich Kandas.
Er sah sich um und fuhr dann schnell fort, “hör mir zu Jon, wir müssen die anderen aus ihrem Schlaf befreien. Dazu müssen wir das Mal, das sie am Oberarm tragen mit Blut stören. Bei dir hat ein einziger Schnitt ausgereicht. Mach das bei allen anderen auf dem Schiff. Ich gehe zu Mertens.”
“Was passiert mit uns? Für so einen Spuk habe ich nicht angeheuert.”
“Ich denke, dass Amoka uns alle mit seinem Voodoo verzaubert hat.”
Im Kapitänszimmer, drehte sich Amoka um, als sein Name ausgesprochen wurde.
“Kapitän, der Schiffsjunge hat Jons Mal zerstört. Sollen wir ihn…”
“Nein, er muss einen freien Willen haben. Kümmere dich um Jon.”
Während Jon unter Deck ging, schlich sich Kandas nun das Achterdeck wieder hinauf, um nach dem Steuermann zu sehen. Er versteckte sich hinter einer großen Holzkiste am Kücheneingang, denn er hatte jemand gehört. Amoka verließ das Kapitänszimmer und wollte unter Deck gehen, um Jon zu suchen. Seine Halskette mit verschiedenen Münzen und Zähnen begann zu rasseln, woraufhin er sich umsah. Kandas Herz fing an schneller zu schlagen. Der alte Mann schien das ebenfalls zu fühlen und ging geradlinig auf die Holzkiste zu, hinter der sich der Schiffsjunge versteckte. Kandas umklammerte ganz fest das Messer, dass er von Jon hatte. Amoka legte seine Hand auf die Fracht und tastete sich langsam zur Holzkiste vor. Seine Kette klapperte wie wild und Kandas wurde übel. Das Rasseln wurde immer lauter. Kandas wollte aus vollster Seele schreien, dass es aufhören soll, doch das tat es nicht. Es wurde schmerzvoll und quälend. Gerade als er aus seinem Versteck herausstürmen wollte, sah Amoka Jon aus dem Augenwinkel. Schnell zückte er eine Puppe aus seinem Hemd und knickte dessen Bein ein. Jon stolperte und fiel die Treppen zum Batteriedeck hinunter. Amoka steckte die Puppe wieder ein und ging schnell hinterher. Kandas hatte keine Zeit sich zu erholen und rannte los. Torkelnd stoß er gegen das Treppengeländer und krabbelte hastig die restlichen Stufen hoch. Oben angekommen drehte er sich auf den Rücken und bemerkte, dass der Himmel schwarz war und es dennoch nicht dunkel wurde. Verlor er allmählich den Verstand, fragte er sich. Die Sonne hatte er schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Es war immer nur hell seitdem sie auf See waren, aber die Sonne sah er nie. Waren sie soweit vom Kurs abgekommen, dass die Navigation nach einem anderen Weltbild funktionierte? Genug mit den Fragen, denn er wollte antworten.
Kandas rieb sich die Augen, stand auf und ging zu Mertens. Auch der Steuermann hatte ein Mal wie Jon und Towick es trugen. Erneut zückte Kandas sein Messer und zerstach das Symbol mit einem Schlitz.
„Mertens, wir müssen hier weg.“
Mertens begann zu lachen, „hier weg? Ich weiß nicht mal wo wir sind.“
„Das ist nicht wichtig, Amoka hat uns verzaubert und…“
„Kandas, Towick mochte ja ein gewaltiger Polleraffe gewesen sein, aber am Tag als er starb, hat er sich verändert. Ich habe ihn gefragt, was mit ihm los sei und er stellte mir eine Frage, die ich nicht beantworten konnte. Ich habe sie während du geschlafen hast auch den anderen gestellt und niemand wusste eine Antwort darauf.“
„Wie lautete die Frage?“
„Ich habe gefragt, ob sich jemand daran erinnern kann, wie wir angeheuert haben oder an irgendwas davor. Nichts allgemeines, sondern bestimmte Momente aus unserem Leben.“
Kandas gefror das Mark. Als er versuchte an etwas zu denken, dass vor einer Woche geschehen war, konnte er es nicht.
„Ist das auch Amokas Werk?“
„Ich weiß es nicht, aber wir können nicht von hier verschwinden, bis wir nicht wissen, was man uns angetan hat.“
„Wie willst du das machen?“
„Ich setze Herold das Messer auf die Brust. Hilfst du mir tapferer Schiffsjunge?“
„Ja, schnell. Wir sollten ihn überraschen und uns durch die Küche schleichen.“
Beide duckten sich und spähten durch das Steuerrad, ob Amoka bereits wieder an Deck war. Sie warteten ein wenig ab und als niemand kam, schlichen sie die Treppe hinunter und verschanzten sich hinter den Türrahmen vor der Kombüse. Mertens lehnte seinen Kopf langsam vor und schielte um die Ecke. Kandas tat es ihm gleich. Henry, der Koch, stand immer noch dort und hackte mit seinem Küchenmesser Lebensmittel. Mertens warf Kandas einen fragenden Blick zu, der diesen mit Handzeichen beantwortete. Mertens wiederholte diese Handzeichen, um sicher zu gehen, dass sie denselben Plan hatten. Nachdem Kandas nickte, signalisierte Mertens ihm, dass es auf drei los ginge. Er hob den Zeigefinger, dann den Mittelfinger und dann… er öffnete seine Hand und gab Kandas zu verstehen, dass sie warten müssten. Der Koch drehte sich um und Mertens sah dessen entstelltes Gesicht. Er sah Kandas mit weitaufgerissenen Augen an, doch Kandas konnte nur resigniert mit den Schultern zucken. Henry ging nun zum Vorratsschrank. Mertens setzte wieder an mit seinen Fingern zu zählen. Zeigefinger, Mittelfinger und Ringfinger. Sie huschten über den Boden der Küche und erreichten die Tür ins Kapitänzimmer. Mertens betätigte langsam die Klinke, doch die Tür öffnete sich nicht. Kandas griff sich in seine Haare, schloss die Augen und holte tief Luft. Ein Finger stupste ihn an der Schulter. Sein Gegenüber wies ihn auf einen Schlüssel hin, der an der Wand neben dem Vorratsschrank hing. Plötzlich erhob sich der Koch und zog seinen Körper aus dem Schrank heraus. Mertens packte Kandas an der Hand und zusammen schwangen sie sich unter den großen Tisch, auf dem riesige Töpfe standen. Sie versuchten nicht mit ihrem Kopf oder einem anderen Körperteil den Tisch zu berühren, um jegliche Geräusche zu vermeiden. Die Schürze vom Koch glitt am Tisch entlang und verweilte mit der Vorderseite zu ihnen. Der Steuermann kratzte sich am Bart. Nach einer Weile wurde er unterbrochen, denn Kandas hatte einen neuen Plan. Mertens würde den Schlüssel holen und währenddessen könnte er das Symbol des Kochs zerstören. Der Steuermann überlegte noch einen Moment und willigte dann ein. Er schlich unterm Tisch hervor, rechts am Koch vorbei uns stand langsam auf. Als seine Kniegelenke in einen stumpfen Winkel übergingen, knackten sie fürchterlich. Wie vom Blitz getroffen drehte sich der Koch um und griff nach dem Steuermann. Mertens konnte dem rechten Arm ausweichen und schlug ihn weg. Der linke Arm des Kochs hingegen kam von weiter unten, weshalb er Mertens am Kragen packen konnte. Henry streckte Mertens in die Luft und begann sofort seinen Mund zu öffnen. Die Fäden zerrissen ihm die Lippen und die Mundwinkel und Hautfetzen baumelten herab. Aus seinem Mund ertönte ein ohrenbetäubender Lärm, der den Steuermann regungslos machte. Nun Schritt Kandas ein, sprang unterm Tisch hervor und stach den Dolch in den rechten Oberarm des Kochs. Für einen kurzen Augenblick hörte er mit dem Schreien auf und lies Mertens los. Ruckartig drehte sich sein Kopf zur rechten Schulter und schrie Kandas. Wieder bei Bewusstsein, rappelte sich Mertens auf und schaute nach dem Mal am Arm des Kochs, doch er fand keines vor. Er sah den Schiffsjungen, wie er sich vor Schmerz krümmte und aus der Nase blutete. Reflexartig nahm er das Messer, das im Schneideblock steckte, schnitt damit ein großes Stück Schürze ab und schlang es um den Kopf des Kochs. Die Schürze knebelte Henry und sein Schrei wurde dumpf. Mit seinem ausgestreckten Bein hielt Mertens den Koch auf Distanz, mit einer Hand hielt Mertens die beiden Enden der Schürze fest und mit der anderen holte er den Schlüssel.
„Hoy, Kandas steh auf. So Schiffsjungen wie du, hatten früher viel mehr Durchhaltevermögen. Steh auf!“
Kandas riss die Augen auf und sprang auf wie ein Katapult. Er schüttelte den Kopf und versuchte die Lage zu überblicken. Bevor er gescheit bei sich war, sauste ein Schlüssel an seinem Kopf vorbei.
„Du sollst ihn fangen, Junge“, beschwerte sich Mertens mit einem Anteil künstlichen Humors.
Kandas drehte sich um, schnappte den Schlüssel und schloss das Kapitänszimmer auf. Auf dem Deck ertönte Geschrei. Mertens drehte sich um 100° auf einem Bein, schnalzte die Schürze aus dem Mund des Kochs und verpasste ihm einen satten Tritt ins Bugdeck.
„Los, lauf!“
Der Steuermann navigierte um den Tisch herum, raste zusammen mit Kandas ins Nebenzimmer und verschloss sofort wieder die Tür.
„Beim Deivel, was ist mit dem Koch passiert?“
„Ich weiß es nicht?“
Aus dem Schatten des Zimmers kam Amoka hervorgetreten.
„Er beging Selbstmord.“
„Warum sollte er das tun?“, argwöhnte Kandas.
„Er und Towick waren verliebt. Seine Trauer zwang ihn dazu.“
„Das ist eine Lüge, du Scharlatan. Was ist hier los? Warum können wir uns an nichts erinnern?“, unterbrach Mertens Amoka wütend.
„Was hier los ist? Ihr seid schon längst Tod. Das ist eure Prüfung.“
„Es reicht, es sind schon zu viele wegen dir gestorben.“
Mertens nahm eine Pistole aus seinem Hemd und zielte damit auf Amoka.
„Die Wahrheit!“
Amoka wollte ebenfalls etwas aus seinem Gewand holen, aber bevor man sehen konnte was es war, durchbohrte eine Kugel seine Brust. In Amokas Augen starb eine Welt, als er realisierte was gerade passiert ist. Er fasste sich an die Schusswunde, schlurfte etwas zurück und fiel. Die Puppe, die er aus seinem Gewand holen wollte, entglitt aus seiner Hand und stürzte gegen einen Leuchter, der dadurch umfiel.
„Du hast ihn getötet“, stammelte Kandas.
„Er hat es verdient. Los Schiffsjunge, konzentriere dich. Kannst du an etwas von früher denken?“
„Nein.“
„Dann war es nicht Amokas Zauber, sondern der des Kapitäns. Komm, wir sollten…“
Ruckartig stockte Mertens und betrachtete seine Hände. Seine Finger schmerzten und während er diese bewegte, zog sich der Schmerz langsam über seine Arme zum gesamten Körper. Er begann zu brüllen und zu kreischen.
„Was geschieht mit mir?“, quälte er aus sich heraus.
Kandas schaute sich um und entdeckte, dass die Puppe, die Amoka aus dem Gewand zog in Flammen stand.
„Es ist die Puppe. Sie brennt, also brennst auch du.“
Kandas wollte gerade zur Puppe gehen, als Mertens sich nach vorne hechtete, Kandas aus dem Weg schuckte, sich die Puppe nahm und sie aus dem Fenster ins Meer warf. Erschöpft und erleichtert sank Mertens zu Boden.
„Geht es dir besser Mertens?“
Er wollte antworten, doch er konnte nicht. Alles was ihm gelang war ein schweres Röcheln. Er griff sich an die Kehle und wollte eine unsichtbare Schlinge von seinem Hals entfernen, aber es gab nichts, das entfernt werden konnte. Kandas verzweifelte und sank neben Mertens zu Boden.
„Es tut mir so leid. Ich wollte dich retten, warum hast du das gemacht?“
Mertens Gesicht wurde blau und sein Körper hörte nach ein paar Sekunden auf zu zappeln.
„Er hat die falsche Entscheidung getroffen“, hauchte es aus dem leblosen Körper von Amoka.
„Wie ist das alles möglich?“
Amoka richtete sich auf, machte eine Handbewegung, ging zur Tür, die zur Küche führte und schloss sie auf. Der Koch kam herein, nahm Mertens Leiche und schmiss sie durch das Fenster ins Meer.
„Ich habe es bereits erklärt, Kandas. Ihr alle seid bereits gestorben. Ihr befindet euch zwischen den Welten.“
„Ich verstehe nicht. Wie bin ich gestorben.“
„Du bist auf der Agwe, das bedeutet, dass dich die Tiefen der See zu uns gebracht haben.“
Schlagartig begann sich Kandas zu erinnern. Das Schiff auf dem er Schiffsjunge war, wurde von einem Wal zerstört. Henry der Koch, Towick der Waljäger, Mertens der Steuermann, Jon der Soldat und er teilten sich ein Rettungsboot. Als es nichts mehr zu Essen und zu trinken gab, töteten die anderen Towick und aßen ihn. Aus Schuldgefühlen beging Henry Selbstmord, anschließend verdurstete Jon und Mertens… wollte ihn umbringen. Kandas und Mertens kämpften und das Boot kenterte, jedoch waren beide zu schwach zum Schwimmen. Er wurde in den Abgrund des Ozeans gezerrt und das Letzte an das er sich erinnern konnte war die Dunkelheit um ihn herum.
Kandas begann bitterlich zu weinen.
„Wieso bin ich hier?“
„Weil du Gutes in dir trägst, Kandas“, erklärte ihm Kapitän Herold, der in sein Kapitänszimmer trat.
„Die Agwe ist eine Prüfung und du hast sie bestanden.“
„Aber wieso?“
„Du hattest mehrmals die Möglichkeit jemand zu töten und hast es nicht gemacht. Du bist eine reine Seele.“
Kandas wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Ich will nicht sterben.“
„Mein lieber Kandas, so leid es mir tut, aber du bist bereits gestorben und so ungerecht ich das auch finde, ich kann dich nicht wieder zum Leben erwecken. Tlaloc hat deine Seele in den Tiefen der Meere gefunden und zu mir gebracht. Ich habe dich examiniert und überlasse dir die Wahl. Willst du mir und Amoka auf der Agwe ewig dienen, um weitere Seelen zu prüfen oder möchtest du Frieden bei Tlaloc finden.“
„Wie seid ihr zu dem geworden, was ihr seid?“
„Du kennst unsere Geschichte bereits. Ich bin ein Teil von Tlaloc und er ist ein Teil von mir.“
Kapitän Herold fasste sich an seine Kette mit dem Stück, das er Tlaloc entrissen hatte.
„Werde ich auf der Agwe Frieden finden?“
„Du hast gesehen, was nötig ist, um eine Seele zu töten oder zu quälen, bis sie ihr wahres Selbst zeigt.“
Kandas hatte fürchterliche Angst.
„Werde ich leiden, wenn ich mit Tlaloc gehen werde?“
„Nein, mein Kind. Du wirst nichts spüren.“
„Na schön, ich habe mich entschieden.“
„Nun gut“, sprach Herold und machte erneut ein Handzeichen.
In der Ferne wölbte sich die Wasseroberfläche und ein riesiges Geschöpf stieg empor. Es war 100-mal so groß wie die Agwe und flog durch die Luft. Es war Tlaloc, ein gigantischer Wal, mit weißen Augen und teilweise durchsichtig-funkelnden Stellen. Er glitt neben die Agwe nieder und sein linkes Auge machte vor Kandas halt. Als er in das Auge von Tlaloc hineinsah, kam es ihm so vor, als würde er in einen kolossalen Spiegel blicken. Dort in diesen Augen sah er sein Innerstes und das was er am meisten begehrte. Ohne zu reden, kommunizierte er mit dem Gott des Todes und Tlaloc wusste, wie sich der Schiffsjunge entschieden hatte. Kandas drehte sich zu Herold und Amoka um, grinste und schloss die Augen. Erneut fiel er in den Nachthimmel und flog in Richtung der Farbe, die er nun allzu gut kannte.

Text: Daniel Engel (ZeBlog)
Illustration: Daniel Engel (ZeBlog), Elissa Engel

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