1. Einleitung:


Diese Textreihe beschäftigt sich mit den Theorien aus Siegmund Freuds „Psychopathische Personen auf der Bühne“ und wie diese in dem Stück „Hamlet“ von William Shakespeare anwendbar sind. Die Erkenntnisse von Freud scheinen auch für heutige Theaterstücke, Filme und literarische Werke noch relevant zu sein, weswegen Zeblog, anhand dieser Thesen, verschiedene Charaktere und Geschichten genauer analysieren wird.


2. Analyse des Textes

2.1 Die Katharsis und der Zuschauer

Der Text „Psychopathische Personen auf der Bühne“ beginnt mit einer Vermutung von Sigmund Freud zur Katharsis, die von Aristoteles unter seiner Analyse der Tragödie wie folgt definiert wird: „Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, […], die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.1)

Wenn nun wie bei Aristoteles angenommen, diese Katharsis und oder „Furcht und Mitleid“ bei einem Schauspiel bzw. einem Bühnenstück erfolgen kann, dann ermöglicht sich dadurch auch induktiverweise die „Eröffnung von Lust- oder Genußquellen“.2)3) Dies wird auch anhand des Beispiels des Komischen und des daraus resultierenden Witzes gezeigt. Durch diese „Genußquellen“3) wird die Basis geschaffen, durch die der Zuschauer überhaupt ein Theaterstück sehen möchte. Der Zuschauer verspürt dasselbe wie ein Kind, das beim Spielen erwachsen sein möchte „[…]Schau-Spiel leistet dem Erwachsenen dasselbe wie das Spiel dem Kinde, dessen tastende Erwartung, es dem Erwachsenen gleichtun zu können, so befriedigt wird.4), jedoch erfährt er keinerlei Gefahr weswegen er sich als ,,Misero, dem nichts Großes passieren kann5) fühlt.

Der Zuschauer möchte sich mit dem Helden identifizieren können und kann diese Identifizierung auch nur genießen, wenn er weiß, dass es „erstens ein anderer ist, der dort auf der Bühne handelt und leidet und zweitens doch nur ein Spiel, aus dem seiner persönlichen Sicherheit kein Schaden erwachsen kann.“6). Demnach geht hervor, dass der Genuss nur dann stattfinden kann, wenn der Zuschauer sich in Sicherheit fühlt.

„[…]Schau-Spiel leistet dem Erwachsenen dasselbe wie das Spiel dem Kinde, dessen tastende Erwartung, es dem Erwachsenen gleichtun zu können, so befriedigt wird.

Freud, Sigmund 1942; Psychopathische Personen auf der Bühne; Gesammelte Werke; S. 163 Z. 13ff

2.2 Unterteilung des Dramas und der Tragödien

Diese obengenannten Bedingungen gelten für alle drei der literarischen Gattungen, so ermöglicht die Lyrik das „Austoben intensiver vielfacher Empfindungen, wie seinerzeit der Tanz7) und das Epos erlaubt einem „den Genuß der großen heldenhaften Persönlichkeiten in ihren Siegen8) zu erfahren. Somit fühlt man in der Lyrik die wilden Gefühle der Euphorie, der Liebe und des Schönen, wobei das Epos das Gefühl von Überlegenheit, Macht und Mut bietet. Dies sind alles positive Gefühlszustände, die an dieser Stelle weder Furcht noch Mitleid auslösen sollten. Wir müssen uns also in die dritte Gattung – in die Dramatik – begeben. Dort erwartet uns ein eklatantes Gegenteil: „Alle Arten von Leiden sind also das Thema des Dramas […]“.9) Die chronologisch erste Art der Tragödie ist die religiöse Tragödie, der das religiöse Drama zugrunde liegt. Diese Form der Tragödie besitzt als Hauptmerkmal „den Kampf gegen das Göttliche10), welches dazu dient um für den Protagonisten zu sein, der gegen das Göttliche rebelliert. Beispiele hierfür gibt es in der griechischen und asiatischen Mythologie in Geschichten über Prometheus, Arachne und Krishna. Diese Art der Tragödie bereitet dem Zuschauer die Genussquelle der Auflehnung (gegen das Göttliche), man fühlt sich befriedigt, denn „je weniger man dann dem Göttlichen zutraut, desto mehr gewinnt die menschliche Ordnung […]11) (s. Abb. 1 a).

Die Auflehnung ist eine Genussquelle, die auch dem sozialen Drama entspringt. Als bürgerliche Tragödie bzw. bürgerliches Trauerspiel, findet man jedoch hier, im Gegensatz zur religiösen Tragödie, die Auflehnung in Gestalt gegen die „menschliche soziale Gemeinschaft12) (s. Abb. 1 b). Für diese Unterkategorie wären Werke wie „Vor Sonnenaufgang“, „Metropolis“ und „die Dreigroschenoper“ passende Vertreter.
Dieser Kampf gegen die soziale Gemeinschaft wird in der Charaktertragödie zum Kampf zwischen (meistens) zwei Personen konzentriert. In diesen Geschichten ergreift man Partei für einen der Charaktere, die der Autor zur Verfügung stellt, und wie beim Sport ist die Genussquelle der „Agon13) (s. Abb.1 c), also der Wettstreit zwischen Fraktionen, wovon jedoch nur eine gewinnen kann. Bekannte Charaktertragödien sind „Michael Kohlhaas“, „Romeo und Julia“ und „Hamlet“.
Während diese Werke reine Charaktertragödien sein können, unterliegt den meisten doch noch eine weitere Interpretation. Diese Formen des Dramas bzw. die Formen der Tragödie enthüllen eine tiefere Ebene: die der Psyche.

Das psychologische Drama zeigt: „Im Seelenleben selbst des Helden kommt es zum Leiden schaffenden Kampf zwischen verschiedenen Regungen […]“14), diese Art des Dramas lässt sich sowohl mit dem sozialen, als auch mit dem Charakterdrama kombinieren (s. Abb. 1. d) „[…] insofern die Institution gerade jenen inneren Konflikt hervorruft.15). Anhand der vielfältigen Optionen geht das psychologische Drama nahtlos in das psychopathologische Drama über, wobei es sich hauptsächlich darin unterscheidet, dass „[…] nicht mehr der Konflikt zweier annähernd gleich bewußten Regungen, sondern der zwischen einer bewußten und einer verdrängten Quelle des Leidens ist […]16). Im psychopathologischen Drama kann nur Genuss erfolgen, wenn „[…] der Zuschauer auch ein Neurotiker sei.“17) (s. Abb. 1. e)



Abb. 1 Unterteilung des Dramas nach Freud:

Die Abbildung zeigt die Unterteilung des Dramas nach Freud und die jeweiligen Genussquellen des Dramas. Anhand der Buchstaben (a-e) ist die chronologische Abfolge gekennzeichnet.

2.3 Der Neurotiker

Ein Neurotiker ist jemand der an einer oder mehreren Neurosen leidet. Freud definiert eine Neurose als „[…] das Ich in Abhängigkeit von der Realität ein Stück des Es unterdrückt […]18) oder einfacher formuliert „Diese (die Neurose) besteht vielmehr in den Vorgängen, […], also in der Reaktion gegen die Verdrängung und im Mißglücken derselben.“19). Um also einen Genuss aus dem psychopathologischen Drama zu schöpfen, muss man wie vorher beschrieben ein Neurotiker sein bzw. an einer Neurose leiden, ergo „[…] ist die Verdrängung im Mißlingen begriffen […]“20). Jedoch warum ist es nur dem Neurotiker vergönnt einen Genuss aus dieser Art des Dramas zu ziehen? Was hindert einen Nichtneurotiker daran?

Die Antwort liegt in der erfolgreichen Verdrängung: „[…] beim Nichtneurotiker wird solche (Regung) bloß auf Abneigung stoßen und die Bereitschaft hervorrufen, den Akt der Verdrängung zu wiederholen, denn diese ist hier gelungen […]21). Somit kann sich nur der Neurotiker mit den Geschehnissen identifizieren, denn „nur bei ihm besteht ein solcher Kampf, der Gegenstand des Dramas sein kann […]“.22)  

2.4 Eigenschaften der psychopathischen Figur

In Bezug auf „Hamlet“ stellt Freud drei essentielle Eigenschaften dar, die für das Gelingen respektive den Erfolg für die Identifizierung des Zuschauers mit der psychopathologischen Figur auf der Bühne obligatorisch sein müssen.

1. Daß der Held nicht psychopathisch ist, sondern es in der uns beschäftigenden Handlung erst wird.23)

2. Daß die verdrängte Regung zu jenen gehört, die bei uns allen in gleicher Weise verdrängt ist, deren Verdrängung zu den Grundlagen unserer persönlichen Entwicklung gehört, während die Situation gerade an dieser Verdrängung rüttelt.24)

Diese beiden Eigenschaften sollten die Basis eines jeden Zuschauers sein.

Man muss „normal“ also nicht psychopathisch sein, oder besser gesagt, glauben es nicht zu sein, wodurch die Verwandlung des Charakters einen selbst verwandelt, ohne dass man etwas davon erfährt. Die zweite Eigenschaft weist darauf hin, dass die Regung, die durch eine Situation ausgelöst wird, tief in uns allen bestehen muss und ein nahezu psychologisches Dogma, eine konservierte evolutionäre Ansicht oder ein Konsens aus der heutigen Gesellschaft sein muss. Man kann sich somit fast schon instinktiv mit der Figur identifizieren, denn „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren“.25)

Diese zwei Charakteristika sind relativ supponierende Kriterien, wodurch die dritte Eigenschaft hervorgehoben wird und vergleichsweise die wahre Kunst des Autors deutet. Jedoch ist zu beachten, dass die Missachtung jeder dieser Eigenschaften zu einer Unterbrechung der Identifizierung mit der Figur führen kann.

3. Aber es scheint als Bedingung der Kunstform, daß die zum Bewußtsein ringende Regung, so sicher sie kenntlich ist, so wenig mit deutlichem Namen genannt wird, so daß sich der Vorgang im Hörer wieder mit abgewandter Aufmerksamkeit vollzieht und er von Gefühlen ergriffen wird, anstatt sich Rechenschaft zu geben.26)

Diese Eigenschaft ist die wichtigste, denn auch wenn die ersten beiden Regeln zutreffen, so kann anhand der Missachtung dieser Regel die Identifizierung mit der Figur trotzdem scheitern. Diese Regel demonstriert, dass der Zuschauer nicht wissen darf, was passiert, denn sobald er merkt was sich ereignet, wird eine gewisse Voreingenommenheit bestehen und er wird verdrängen oder entwickelt eine kognitive Dissonanz gegenüber dem verdrängten Thema.

Hierzu ein alltägliches Beispiel, das wahrscheinlich jedem so ähnlich bereits passiert ist. Man erhascht einen Film, von dem man noch nie etwas gehört oder gesehen hat im Fernseher und schaut ihn sich ohne Hintergrundwissen an. Man genießt diesen Film bis man erfährt, dass eben dieser Film von einem Regisseur und/oder Autor ist, den wir überhaupt nicht ausstehen können. Unsere erste Reaktion wird die Verdrängung sein, dass wir ihn genossen haben und dass wir uns plötzlich nicht mehr mit dem Film identifizieren können. So ergeht es uns auch wenn wir von dem Problem der Figur wissen. „Denn der kranke Neurotiker ist für uns ein Mensch, in dessen Konflikt wir keine Einsicht gewinnen können, wenn er ihn fertig mitbringt. Umgekehrt, wenn wir diesen Konflikt kennen, vergessen wir, daß er ein Kranker ist […]27).

Wie in der Erläuterung der ersten Regel, spielt die Verwandlung, die Metamorphose vom „Nichtpsychopathen“ zum Psychopathen, eine wichtige Rolle zur Identifizierung mit der Figur und somit ist die „Aufgabe des Dichters […], uns in dieselbe Krankheit zu versetzen, was am besten geschieht, wenn wir die Entwicklung mit ihm mitmachen.“28).
Diese Entwicklung kann nur stattfinden, wenn wir nicht wissen, dass eine Entwicklung bei uns erfolgt, abgesehen davon dient diese Entwicklung hauptsächlich dazu etwas zu verdrängen, was wir nicht kennen, denn der Zuschauer erlebt eine Situation bei der „[…] die Verdrängung nicht bereits bei uns besteht […]29), sondern erst hergestellt werden muss. Das Herstellen dieser Verdrängung wird durch die Einhaltung der obigen Regeln unterstützt.

Zusammenfassend könnte man sagen: „Wo uns die fremde und fertige Neurose entgegentritt, werden wir im Leben nach dem Arzt rufen und die Figur für bühnenunfähig halten.30)

3. „Freuds Hamlet“

3.1 Vergleich der drei Eigenschaften mit dem Werk

So sollte doch jeder wissen, der „Hamlet“ von William Shakespeare gelesen hat, dass die Geschichte eine Tragödie ist, in der es um Rache geht, denn der Vater des Prinzens Hamlet wird von seinem Bruder (also Hamlets Onkel) ermordet. Wenn man nun die Geschichte des Hamlets mit den oben genannten Eigenschaften abgleicht, dann wird etwas Interessantes ersichtlich.

Die erste Eigenschaft besagt, dass der Held erst in der Handlung zum Psychopathen werden soll. Hamlet ist am Anfang des Stückes ein „normaler“ jugendlicher, er interessiert sich für das Mädchen Ophelia („Er hat seither Anträge mir getan von seiner Zuneigung.“)31) und studiert in Wittenberg mit einem guten Freund („Mein guter Freund; vertauscht mir jenen Namen. Was macht Ihr hier von Wittenberg, Horatio?“)32) .

An diesem Beispiel lässt sich zeigen, dass er Freundschaften schätzt und zu jener Zeit normale Liebesbeziehungen zu Frauen hegt bzw. Empathie und Liebe empfindet. Außerdem berichtet sein Onkel (König) von „Hamlets Verwandlung“33).

Die zweite Eigenschaft erfüllt sich im Aspekt der Rache. Die Rache ist eine Handlung, die schon in der Bibel ein Thema war, aber auch in der Antike basierte man Gesetze auf Rache 34). Daraus lässt sich schließen, dass das Motiv der Rache dem Menschen schon sehr lange bekannt ist und (ohne auf die Evulotionsbiologie genauer einzugehen) wohl ein konservierter Affekt des Menschen ist. Die Verdrängung der Rache ist auch der Konflikt des Hamlets, die zu vielen Aussagen über Leben und Tod und unter anderem auch zum berühmten „Sein oder Nichtsein Monolog“ führt.

An der dritten Eigenschaft kann man doch nun das erste Misslingen erkennen, denn das Motiv der Rache wird sehr oft erwähnt und jeder der diese Rache nicht nachvollzieht, wird sich nicht mit der Figur des Hamlets identifizieren wollen. Dies wäre nicht weiter von Relevanz, wenn Freud nicht gerade dieses Werk als Modell für die Charakteristika gewählt hätte. Ist es wirklich der Konflikt der Rache, welcher Hamlet zum Neurotiker werden lässt?

3.2 Annäherung an den versteckten Konflikt

Mit dem Satz „Ist doch der Konflikt im Hamlet so sehr versteckt, daß ich ihn erst erraten mußte.“35) schließt Freud seine Analysen und Beobachtungen zu „Hamlet“ ab. Was ist nun aber der Konflikt, der auf die drei Eigenschaften zutrifft, die Freud aus Hamlet herausgelesen hat? Um dies zu enthüllen muss man den Abschnitt bevor Hamlet erfährt, dass sein Vater ermordet wurde nochmals genauer untersuchen. Wir werden feststellen, dass ein gewisses Thema besonders kontrastiert wird: der Bezug zur Mutter und deren schnelle Vermählung mit dem Onkel.  
So wird in diesem Abschnitt auffallend oft die Trauerzeit erwähnt und wie schnell sich seine Mutter entschieden hat erneut zu heiraten „Aber zwei Monate tot: nein, nicht mal, nicht zwei:36), „Und doch, binnen einem Monat36).

Außerdem wirft Hamlet seiner Mutter vor, dass sie länger trauern hätte sollen „(o Himmel! Ein vernunftloses Tier würde länger getrauert haben)“36), dies geht sogar soweit dass er ihr vorwirft niemals richtig um den Vater getrauert zu haben „ Binnen einem Monat! – Eh noch das Salz ihrer heuchelnden Tränen ihre roten Augen zu jücken aufgehört, verheiratet!36). Zusätzlich projiziert er das Verhalten seiner Mutter auf alle Frauen „Gebrechlichkeit, dein Nam‘ ist Weib!“36). Dieser Abschnitt konzentriert sich in der englischen Originalfassung auf die gleichen Themen und zeigt, dass es sich hier nicht um einen deutschen Übersetzungsfehler handeln kann (s. Abb. 2).

Anhand dieser Textzeilen erkennt man, dass Hamlet sehr an seinem Vater hängt, einen unterdrückten Zorn gegen seinen Onkel hegt und äußerst enttäuscht von dem Handeln seiner Mutter ist in so kurzer Zeit erneut zu heiraten. Worin liegt jetzt aber der versteckte Konflikt? Um diesen Konflikt zu erkennen muss jedoch noch eine weitere Auseinandersetzung mit einer Theorie von Freud erfolgen.

Abb. 2 Markierter Text aus dem ersten Aufzug von Hamlet:
In dieser Abbildung ist ein Textausschnitt aus dem 1. Aufzug dritte Szene zu sehen. Links der Originaltext und rechts die Übersetzung von Christoph Martin Wieland angepasst an die heutige Rechtschreibung. Die wichtigen Stellen wurden mit rot markiert.

3.3 Der Ödipuskomplex

Erstmals wurde das Konzept des Ödipuskomplexes in Freuds „Totem und Tabu“ beschrieben. Der Ödipuskomplex ist ein Konzept, der nach dem Charakter der Tragödie „König Ödipus“ benannt wurde, da dieser unwissentlich seinen Vater tötete, seine Mutter heiratete und mit dieser mehrere Kinder zeugte.37)
Der Ödipuskomplex beschreibt den Komplex während der ödipalen Phase, ugf. zwischen drittem und fünftem Lebensjahr, in der das Kind den Vater als Rivalen sieht, weil er die Mutter begehrt.37)

Dieser Komplex wird jedoch aufgrund von zwei Ereignissen wieder abgelegt, das erste der beiden ist durch die Reife des Individuums, so „muß das Ausbleiben der erhofften Befriedigung, die fortgesetzte Versagung des gewünschten Kindes, es dahin bringen, daß sich der kleine Verliebte von seiner hoffnungslosen Neigung abwendet.“38).

Die zweite der beiden Gründe ist die Identifizierung mit dem Vater, durch die der Vater zu einer Vorbildfigur ins Über-Ich aufgenommen wird. „Die ins Ich introjizierte Vater-oder Elternautorität bildet dort den Kern des Über-Ichs […] und so das Ich gegen die Wiederkehr der libidinösen Objektbesetzung versichert.39)

Die Folge aus der Ablegung des Ödipuskomplexes führt zur Verschiebung der Begierde die für die Mutter empfunden wurde, auf eine Frau, die der Mutter ähnelt und zum Respekt gegenüber dem Vater.  

3.4 Der Ödipuskomplex in „Hamlet“

Wenn man nun annehmen kann, dass Hamlet seinen Vater nach Ablegung des Ödipuskomplexes in das Über-Ich aufgenommen hat, sei es in Form von einer Vorbildfigur bzw. in einer Form von Wert- und Normvorstellungen, dann verdrängen die Normen und Werte des Vaters, wie in diesem Beispiel angenommen, Hamlets Mordlust (s. Abb. 3).

Doch wie bereits erläutert, hängt Hamlet nach dem Tode seines Vaters immer noch sehr an ihm und vergleicht ihn mit seinem unpassenden Onkel.

Ein so exzellenter König, gegen diesen, wie Apollo gegen einen Satyr: Der meine Mutter so zärtlich liebte […]“36).

Dieser Vergleich zeigt, dass Hamlet seinen Vater als Apollo sieht und während dieser als Gott der Kunst, der Heilung, der Strenge und oft auch als Sühngott bezeichnet wurde, ist für ihn sein Onkel ein Satyr, ein lüsterner niederer Waldgeist oder eben in der modernen Sprache ausgedrückt: ein geiler alter Bock. Man könnte sogar so weit gehen und sagen, dass der Vater das Über-Ich und der Onkel das Es, also die Lust die ständig verdrängt werden muss, im Stück repräsentiert.
Diese Ambivalenz lässt sich erneut mit dem Ödipuskomplex vereinen, da dieser einen „Ambivalenzkonflikt“40) mit dem Vater erzeugt. Es handelt sich hierbei um einen Annäherungs-Vermeidungskonflikt, denn auch wenn Hamlet so sein wollte wie sein Vater (Annäherung), so müsste er ihn töten (Vermeidung), um seinen Platz einzunehmen.

Als Hamlets Vater stirbt, beeinflusst ihn das noch nicht, erst als er erfährt, dass der König von seinem Onkel umgebracht wurde, fängt Hamlet an, an seinen Normen zu zweifeln.

„Bin ich vielleicht eine Memme? Wer darf mich einen Schurken nennen, mir ein Loch in den Kopf schlagen […] Wer tut mir das? Und doch sollt‘ ich es leiden […]“41)

Durch die Bestätigung des Bühnenstücks, dass sein Vater tatsächlich von seinem Onkel Claudius umgebracht wurde, verliert der Vater die Vorbildfunktion im Über-Ich (s. Abb. 3 2). Das Ich ist im ständigen Kampf mit dem Es und orientiert sich an den Normen des Über-Ichs, weshalb man sagen kann, dass das Über-Ich gegen das Es „kämpft“.42) Da die Vorbildfigur des Vaters nun nicht mehr vorhanden ist, wird das Über-Ich „schwächer“, woraufhin Hamlets Mordlust bzw. das Es stärker wird. Das Verlangen seinen Onkel zu töten nimmt somit auch zu.

Jetzt könnt ich’s am füglichsten tun, jetzt da er betet, und jetzt will ich‘ tun43).



Aber nicht nur der Vater wird aus dem Über-Ich ausgeschlossen, sondern auch die reife Entscheidung eine andere Frau als die Mutter zu begehren verschwindet in Hamlet.
So wurde vor dem Mord an Hamlets Vater beschrieben, dass Hamlet Ophelia liebt 31) und ihr „Anträge von Zuneigung“ machte. Obwohl Hamlet seine Mutter die schnelle Heirat vorwirft und diese Enttäuschung auf alle Frauen projiziert, hat er ein normales Liebesverhältnis zu Ophelia. Erst als er von der Ermordung seines Vaters durch seinen Onkel hört, wird er immer abfälliger ihr gegenüber. Er rät ihr „Geh in ein Nonnenkloster“31) und spottet, dass der Prolog des Theaterstücks so kurz „wie Weiber-Treue“31) sei.

Ophelia rückt in den Hintergrund und das alleinige Interesse für die Mutter kommt erneut zum Vorschein. Bevor er nach England geht verabschiedet Hamlet seine Mutter mit den Worten „Lebet wohl, liebe Mutter.“44), Ophelia hingegen würdigt er nicht mal eines Wortes, obwohl er ihren Vater getötet hatte.
Dies zeigt, dass er trotz der Enttäuschung, dass sie seinen Onkel geheiratet hat, Hamlet wieder eine gute Beziehung zu seiner Mutter hat und ihr nicht herablassende Bemerkungen entgegenbringt, wie er es Ophelia gegenüber tut.

Ohne die Normen und Werte des Vaters oder der Mutter im Über-Ich, ist das Es an diesem Punkt die stärkste Kraft in Hamlet und er begeht seinen ersten Mord. Er ersticht Ophelias Vater Polonius, den er fälschlicher Weise für seinen Onkel hält. Erst nachdem Hamlet von Ophelias Tod erfährt, erinnert er sich daran wie sehr er diese liebt45) und die Mutter verliert erneut die Position als Begierdeobjekt, was dazu führt, dass sie stärker im Über-Ich projiziert wird, welches wiederum seine Mordlust zügelt. Den letzten Mord begeht Hamlet, wen ihm bewusst wird, dass seine Mutter Gift getrunken hat.46) Dadurch wird sie wie der Vater aus dem Über-Ich entfernet und die Mordlust, das vom Es ausgeht, gewinnt erneut den Kampf.

Wir können also anhand dieser reversierten Argumente sehen, dass der Ödipuskomplex der versteckte Grundkonflikt im Hamlet sein könnte, den Freud erkannt hat. Wenn wir zumindest die oben genannten drei Eigenschaften mit den eruierten Punkten abgleichen, erkennt man eine Übereinstimmung:

Die Entwicklung des Charakters kann anhand der Wiederaufnahme des Ödipuskomplexes bzw. dem Kampf zwischen Über-Ich und Es dargestellt werden, weshalb eine Entwicklung vom nicht psychopathischem zum psychopathischem Zustand ersichtlich ist. Die zweite Eigenschaft trifft zu, da laut Freud der Ödipuskomplex „den Kern aller Psychoneurosen bildet“47) und er deshalb in jedem Zuschauer in gleicher Weise verdrängt ist.  Auch die dritte Eigenschaft trifft zu, da direkte psychologische Probleme nie im Stück genannt werden.


Abb. 3 Strukturmodell der Psyche in Bezug auf Hamlet:
In dieser Abbildung ist eine vereinfachte Version des Strukturmodells der Psyche von Freud in Bezug auf Hamlet zu sehen.
1) Konzept, das zeigt wie die Psyche von Hamlet mit seinem Vater aussähe
2) Konzept, das zeigt wie die Psyche von Hamlet ohne seinen Vater aussähe

4. Vergleich der drei Eigenschaften mit Macbeth

Um zu zeigen, dass diese drei Eigenschaften nicht nur für Hamlet funktionieren, werden wir in einer banalen Art ein weiteres Werk von Shakespeare analysieren, nämlich „Macbeth“.

Die erste Eigenschaft scheint hier auch übereinzustimmen. Macbeth wird von den Hexen als „tapfer, gerecht und gut (im engl. fair),48) beschrieben und möchte anfangs den König nicht umbringen. Im Verlaufe der Handlung ändert sich dies aber.

Die zweite Eigenschaft lässt sich ebenfalls übernehmen, und so ist die verdrängte Regung die Gier und der Neid, dessen jeder Mensch fähig ist.

Die dritte Eigenschaft ist wieder etwas schwieriger zu eruieren, jedoch kann man auch hier wieder den Ödipuskomplex erkennen. In dem Moment in dem Macbeth vor dem Mord am König zurückweicht zweifelt Lady Macbeth an seiner Männlichkeit „So bleich und schlaff […] Von nun an weiß ich auch, wie Macbeth liebt49) und als Lady Macbeth von dem Mord redet „Als du das tatest – da warst du ein Mann!“49). Weil Lady Macbeth seine Männlichkeit anzweifelt erlebt Macbeth eine Art der Kastrationsangst, die sich im Genitalneid ausdrückt, wodurch er andere Männer als Rivalen sieht.37)

5. Fazit

Der Reiz an Hamlet liegt bei vielen Lesern an der Menschlichkeit des Charakters. Diese wird durch die Untätigkeit und den Frust, den diese mit sich bringt erzeugt. Freuds Regeln bieten eine Anleitung, woher diese Untätigkeit/Unsicherheit im Handeln kommen könnte. Anhand von komplexen inneren Kämpfen des Über-Ichs und des Es bleibt der Charakter des Hamlets dynamisch, selbstkritisch und unberechenbar.

Mit diesem Text ist es Sigmund Freud gelungen, Regeln zu postulieren, die dafür eingesetzt werden könnte, um Autoren ein Werkzeug zu bieten, damit das Publikum eine psychopathische Tragödie genießen kann. Da diese Regeln sowohl in „Hamlet“ als auch in „Macbeth“ anwendbar sind, kann man davon ausgehen, dass die Beobachtung dieser Eigenschaften einen gewissen Erfolg erzielt und auf weitere Geschichten und Medien anwendbar sind.
Freud ist sich aber auch der Ausnahme dieser Regeln bewusst und so beendet er den Text mit folgendem Satz:

Im allgemeinen wird sich etwa sagen lassen, daß die neurotische Labilität des Publikums und die Kunst des Dichters, Widerstände zu vermeiden und Vorlust zu geben, allein die Grenze der Verwendung abnormer Charaktere bestimmen kann.“50)

Literaturverzeichnis:

1)          Aristoteles; Poetik; Übersetzt von Fuhrmann: Kap.6 Abschn. 2
2)          Freud, Sigmund 1942; Psychopathische Personen auf der Bühne; Gesammelte Werke; S. 163 Z. 1
3)          Ebd. Z. 4f
4)          Ebd. Z. 13ff
5)          Ebd. Z. 15
6)          Ebd. Z. 26ff
7)          Ebd. S.164 Z. 3f
8)          Ebd. Z. 4
9)          Ebd. Z. 21
10)        Ebd. S.165 Z. 16
11)        Ebd. Z. 18f
12)        Ebd. Z. 21
13)        Ebd. Z. 23
14)        Ebd. Z. 35ff
15)        Ebd. S. 166 Z. 4f
16)        Ebd. Z. 12ff
17)        Ebd. Z. 16
18)        Freud, Sigmund 1924; Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose; Gesammelte Werke; S. 357 Z. 2f
19)        Ebd. Z. 17ff
20)        Freud, Sigmund 1942; Psychopathische Personen auf der Bühne; Gesammelte Werke; S. 166 Z. 22f
21)        Ebd. Z. 18ff
22)        Ebd. S. 166 Z. 24
23)        Ebd. Z. 31ff
24)        Ebd. Z. 33ff
25)        Ebd. S167 Z.2f
26)        Ebd. Z. 3ff
27)        Ebd. Z. 14ff
28)        Ebd. Z. 18ff
29)        Ebd. Z. 22f
30)        Ebd. Z. 26ff
31)        Shakespeare, William; Hamlet – Prinz von Dänemark; Übersetzt von Christoph Martin Wieland; 1. Aufzug, dritte Szene
32)        Ebd. 1. Aufzug, zweite Szene
33)        Ebd. 2. Aufzug, dritte Szene
34)        Aristoteles; Rhetorica ad Alexandrum
35)        Freud, Sigmund 1942; Psychopathische Personen auf der Bühne; Gesammelte Werke; S. 167 Z.10f
36)        Shakespeare, William; Hamlet – Prinz von Dänemark; Übersetzt von Christoph Martin Wieland; 1. Aufzug, dritte Szene
37)        Freud, Sigmund 1912-13; Totem und Tabu; Gesammelte Werke; S.414ff
38)        Freud, Sigmund 1924; Der Untergang des Ödipuskomplexes; Gesammelte Werke; S.245 Z. 13ff
39)        Ebd. S.248 Z.13ff
40)        Freud, Sigmund 1912-13; Totem und Tabu; Gesammelte Werke; S.414 Z.30
41)        Shakespeare, William; Hamlet – Prinz von Dänemark; Übersetzt von Christoph Martin Wieland; 2. Aufzug, achte Szene
42)        Freud Sigmund 1923; Das Ich und das Es III, S. 301f
43)        Shakespeare, William; Hamlet – Prinz von Dänemark; Übersetzt von Christoph Martin Wieland; 3. Aufzug, neunte Szene
44)        Shakespeare, William; Hamlet – Prinz von Dänemark; Übersetzt von Christoph Martin Wieland; 4. Aufzug, dritte Szene
45)        Shakespeare, William; Hamlet – Prinz von Dänemark; Übersetzt von Christoph Martin Wieland; 5. Aufzug, zweite Szene
46)        Shakespeare, William; Hamlet – Prinz von Dänemark; Übersetzt von Christoph Martin Wieland; Übersetzt von Friedrich Schiller; 5. Aufzug, fünfte Szene
47)        Freud, Sigmund 1912-13; Totem und Tabu; Gesammelte Werke; S.439 Z.26
48)        Shakespeare, William; Macbeth; Übersetzt von Friedrich Schiller; 1. Aufzug erste Szene
49)        Ebd. Aufzug 15. Szene
50)        Freud, Sigmund 1942; Psychopathische Personen auf der Bühne; Gesammelte Werke; S. 168 Z. 3ff