Der Kofferraum ging langsam auf und es flogen eine zerrissene Hose sowie zerfledderte Arbeitsschuhe durch den Kombi. Am liebsten hätte sich Herr Lambert hinterhergeschmissen, doch er setzte sich auf die konventionelle Weise hinein. Gedankenverloren starrte er einen Moment an die Decke seines Autos und ließ dann den Kopf langsam sinken. Sein Nacken knackste dabei so laut als wäre er ein Zwieback. Anschließend dehnte er seinen Kopf nach links: im Cupholder steckte noch der Schichtplan von letzter Woche. Er dehnte seinen Kopf nach rechts: Auf dem Beifahrersitz war eine Klappkiste mit Energydrinkdosen. Sein Gesicht glitt langsam in seine Handflächen und er rieb sich Schläfe und Stirn. Plötzlich begann er aus dem nichts auf sein Lenkrad einzuschlagen. Seine Handballen wurden rot und schwollen an. Als der Schmerz zu stark wurde, schlug er noch einmal mit der Faust zu und startete dann seine Entspannungs-CD.
»Wir atmen tief ein! Wir verstehen, dass jeder Mensch ein Schild hat. Wir atmen wieder aus! Wenn dieses Schild zerbricht, sehen wir den wahren Menschen dahinter. Wir atmen ein! Wir sind ruhig und erkennen, dass wir diesem hilflosen weichen Kern nicht schaden wollen. Wir atmen wieder aus. Pause. Atmen Sie tief ein. Sie verstehen, dass jeder Mensch ein Schild hat. Sie atmen wieder aus! Wenn Sie dieses Schild zerbrechen, sehen Sie den wahren Menschen dahinter. Sie atmen ein! Sie sind ruhig und erkennen, dass Sie diesem hilflosen weichen Kern nicht schaden wollen. Sie atmen wieder aus! Pause. Wir atmen tief ein! Wir verstehen…«
Etliche Minuten Entspannungskur später, erreichte Herr Lambert seine Einfahrt. Er zog die Handbremse an, stellte das Zündschloss auf „LOCK“, floss aus seinem Gefährt heraus und betrat zügig seine Wohnung.
»Hallo die Herren, wie geht’s mit dem Anbau voran? Ich hoffe doch…«
»Bon Jovi Herr Lambert, leider können wir die ausgemachte Leistung doch nicht so erbringen, wie wir es geplant haben.«
»Was?«
»Sehen Sie, es ist ganz einfach. Die Arbeiter haben begonnen die Wand einzureißen und gemerkt, dass die Architektur ganz anders ist, als es auf dem Plan eingezeichnet war.«
»Wie kann das sein? Ich habe doch bereits für genau diese Leistung bezahlt.«
»Naja, sowas passiert eben im Alltag der Bauherren und Architekten. Kennen Sie dieses angesagte nachhaltige Designer-Glas, das bei monotoner Beschallung brüchig wird? Wenn das beim Einbau zerbricht, kann ich da auch nichts machen. Typische Kollateralschäden und Erbringungskollisionen eben. Steht aber alles im Kleingedruckten und ist halb so wild. Ich denke mir eine Alternative für Sie aus und melde mich vielleicht Anfang nächsten Jahres wieder bei Ihnen. Wie sieht’s bei Ihnen gegen April aus?«
»April? Der Anbau sollte in ein paar Monaten fertig sein, damit meine Kinder zu mir kommen können. Ich habe doch auch für jetzt bezahlt.«
»Gut, dass Sie mich daran erinnern. Eine weitere Rechnung lasse ich Ihnen diese Woche noch zukommen. Vielleicht per E-Mail, schließlich muss man bei so viel Holz für die geplante neue Küche, ja auch mal was für den Baumbestand tun.«
»Aber, aber…«
»Herr Lambert, Worte inflationär zu benutzen zeugt von mangelnder Kreativität. Sie sollten von nun an damit aufpassen. Ich plapper‘ aber schon wieder zu viel. Ich habe getan was ich konnte und muss jetzt wieder los. Sie wissen ja, wie das ist. Jeder will bauen. Also bis bald!«
Das „bald“ hallte noch kurz durch die leergeräumte Wohnung und wurde von einem Trupp Handwerker aufgesogen, die ebenfalls hinauswollten.
»Moment! Wo wollt ihr denn hin?«, hielt Herr Lambert die Ansammlung von Helmen vor dem Eingang auf.
Sie blieben stehen, bildeten einen geschlossenen Kreis und begannen zu tuscheln. Nach wenigen Sekunden erhob einer den Kopf, musterte Herr Lambert und trat einen Schritt hervor.
»Wir machen Feierabend.«
»Sagt mir doch bitte erst, was zur Hölle ihr den ganzen Tag gemacht habt und warum ihr nicht mit dem Anbau beginnen könnt?«
»Also Herr Lambrecht…«
»Ich heiße Lambert.«
»Das wissen wir doch, Herr Lambert. Mein Kollege hier wird es Ihnen erklären können.«
»Wissen Sie Herr Lamberg…«
»Wie bereits gesagt, heiße ich Lambert. B-E-R-T. Ohne G und CH.«
»Selbstverständlich, das wissen wir doch, es gibt nur so viele Bauherren, dass wir da leicht durcheinander kommen können. Die Sache ist folgende, also nun ja, sehen Sie: es gibt eben Mauern und es gibt extrem wichtige Mauern, die essenziell für die ganze Statik einer Struktur sind. Wenn wir also diese Mauer einreißen würden, dann könnte womöglich alles einstürzen.«
»Und das stand so nicht im Bebauungsplan? Der Statiker hat das doch bereits abgesegnet.«
»Was soll ich sagen. Wir haben in der Mitte der Wand einen Stein gelöst und dann haben wir ihn wieder zurückgesteckt. Es gab Probleme, die ihren Preis haben. Verstehen Sie?«
Ein Meterstab flog am Kopf des Handwerkes vorbei, der daraufhin schwieg.
»Diese Wand wurde vor euch von Fachhampelmännern akribisch studiert und ich werde nicht für doppelte Arbeit zahlen. Jetzt mal Klartext! Warum zur Hölle habt ihr den bekackten Stein wieder zurückgesteckt, als ihr ihn bereits gelöst hattet?«
Anhand dieser Frage wollten sich die Arbeiter erneut beraten, woraufhin Herr Lambert langsam wütend wurde.
»Ich habe dieses Spiel leid. Ich mach‘ meinen Scheiß ab jetzt selbst. Verzieht euch ihr Pfeifen!«
Kaum hatten die Gehirne der Arbeiter verarbeitet, was gerade durch ihren Gehörgang gesäuselt war, rannten die Handwerker, wie ein Rudel zugekokster Pinguine, aus der Wohnung. Herr Lambert konnte gerade noch so zur Seite springen, bevor ihn der Strom von Vermessern, Schreinern und Gipsern mitgerissen hätte. Der letzte im Bunde blieb jedoch stehen, als er Herr Lambert so verzweifelt dastehen sah.
»Es gibt immer Alternativen. Das wird schon wieder Herr Limburg.«
»RAUS! Verdammte Kacke. Ich will euch erst wieder sehen, wenn einer von euch diese beschissene Wand einhaut.«
Der Facharbeiter mit Mitgefühl zuckte mit den Schultern und verließ dann ebenfalls das Gebäude.
Da stand Herr Lambert nun. Mit einem leergeräumten Haus, einem Puls von 230 zu 140 und einer immer noch standhaften Mauer. Er ballte seine Fäuste und ging stampfend in sein früheres Wohnzimmer. Dort entdeckte er den zurückgesteckten Stein in der Wand, der ein paar Zentimeter herausragte. Seine Fingernägel bohrten sich in den Backstein und er versuchte ihn rauszuziehen. Doch es klappte nicht und das war der Tropfen, der das sehr kleine Fass Geduld von Herr Lambert zum Überlaufen brachte. Wütend verließ er das Haus, ging in seine Gartenhütte und holte seinen Vorschlaghammer heraus. Beim Rückweg blieb er an der Hausseite mit der äußeren Wohnzimmerwand stehen und zeigte ihr erst verzweifelt den Mittelfinger und anschließend triumphierend den Vorschlaghammer. Die Wand schien von den Drohungen bisher aber eher unbeeindruckt zu sein und äußerte sich auch nicht weiter.
»Soso, du willst mich also ruinieren? Erst lässt du mich Doppelschichten arbeiten, dann bist du für meine Zukunftspläne zu klein und jetzt das noch. Du bescheuerte impotente Immobilie. Ich zeig dir jetzt mal, was ich von dir halte«, schrie er sein Haus an.
Zähne-knirschend betrat Herr Lambert und sein Vorschlaghammer das frühere Wohnzimmer. Obwohl niemand im Raum war, fühlte es sich so an, als ob Streit in der Luft läge. Herr Lambert begann seinen Vorschlaghammer zu streicheln und setzte zum Hieb an. Der Vorschlaghammer schnellte auf die Wand zu, wie eine Guillotine auf den Kopf eines Adligen.
»Das ist für meinen Job!«
Die Wand blieb unversehrt.
»Das ist für meine kriselnde Ehe!«
Der erste Stein begann sich zu lösen.
»Das ist für die blöde Visage vom Architekten!«
Ein Loch entstand in der Wand.
»Und das ist für meine…«
Herr Lamberts Schwung wurde von einer Hand aus der Mauer aufgehalten.
»Lass‘ los! Das ist mein Vorschlaghammer.«
Doch die Hand zog den Vorschlaghammer zu sich. Herr Lambert ließ nicht los und verschwand ebenfalls im schmalen Loch seiner Wohnzimmerwand. Er machte sich gefasst im Garten zu landen und bereitete sich mental auf eine Parkoureinlage vor. Als seine Füße einen Widerstand bemerkten, rollte er sich so elegant, wie ein Brötchen, das aus einem Frühstückskorb gefallen war, ab und landete vor einem schwarzgekleideten Mann, der seinen Hammer in der Hand hielt.
»Was machen Sie denn in meinem Garten?«
»Sehen Sie das denn nicht? Ich halte ihren Vorschlaghammer und das ist nicht Ihr Garten.«
»Könnte ich den bitte wieder haben? Ich muss da noch was erledigen.«
»Keineswegs Herr Lambert, dies ist ein gewaltfreies Etablissement. Dafür bürgt Herr Bozes, schon seit dem Krieg von 97, mit seinem Namen.«
»Herr Bozes? Es gab doch 97 gar keinen Krieg.«
»Für solche Leute wie Sie gab es 97 keinen Krieg, nein. Jeder der weniger als eine Millionen Kapital verfügt hat die prozentualen Auswirkungen nahezu nicht gespürt. Doch wir schon und dank Herr Bozes haben wir uns auch wieder davon erholt. Nun stellen Sie sich doch nicht dumm, Herr Lambert. Herr Bozes ist der reichste Mensch der Welt. Wir sind hier alle äußerst stolz auf sein Werk.«
»Nie von dem Typen gehört.«
Der Vorschlaghammerhalter ließ nach diesem Satz fast den Hammer fallen. Herr Lambert rappelte sich auf und schaute sich um. Er konnte seinen Augen nicht trauen.
»Wo bin ich?«
»Wie bereits gesagt, ist das Herr Bozes Etablissement. Für Laien, Herr Lambert, ist es der „Gold market“. Hier gibt es alles, was sie sich nur vorstellen können und wahrscheinlich mehr.«
»Der „Gold market“? Das sieht eher, wie ein obskurer Discounter aus, wenn Sie mich fragen.«
»Hahaha, was für ein ordinärer Scherz von Ihnen, Herr Lambert.«
Ein zögernder Blick nach links und rechts.
»Entschuldigen Sie…«
»Ich heiße Baron Lotz von Virgil.«
»Baron Virgil, was genau ist dieser „Gold market“?«
»Sie kennen doch mit größter Wahrscheinlichkeit den Begriff des Schwarzmarktes. Der „Gold market“ ist eine Anlehnung an diesen Begriff und laut Herrn Bozes, die nächste Entwicklungsstufe dieses Konsuminstruments. Wenn Sie reich genug sind, dann bekommen Sie eine Einladung, um bei uns einkaufen zu dürfen und wenn Sie eine Einladung vorweisen können, dann können Sie alles kaufen.«
»Alles alles?«
»Alles alles!«, seufzte Lotz von Virgil.
»Na schön Baron, was ist denn an diesen Pfirsichen dann so besonders?«
»Das sind die Pfirsiche aus dem Garten des Affenkönigs Sun Wukong. Ein Geschenk der Kaiserfamilie an Herr Bozes. Sie sollen angeblich unsterblich machen, doch bisher konnten sie nur einige tödliche Krankheitsverläufe heilen. Das Stück kostet zurzeit 20 Millionen Dollar.«
»Auch Krebs?«
Der Baron lachte empört.
»Natürlich Krebs. Für was halten Sie uns denn?«
Herr Lamberts Blutdruck begann sich langsam zu erhöhen.
»Falls Sie aus politischen Gründen gegen China sind, haben wir hier drüben auch Setzlinge von Leonardo Da Vincis Lieblingspappel für 500.000 Dollar.«
»Wieso würde jemand die Lieblingspappel von Da Vinci kaufen?«
»Sie müssen wissen, Stammgäste wie Bill Gates kaufen alles von Herrn Da Vinci.«
»Alles alles?«
Baron von Virgil seufzte erneut aber diesmal etwas vornehmer, »Zu meinem Bedauern, ja.«
Herr Lambert verzog sein Gesicht.
»Sie sagen es Herr Lambert. Die Pfirsiche werden wenigstens noch zu medizinischen Zwecken benutzt, obwohl ich gestehen muss, dass der Großteil der Kunden sie ausschließlich für psychedelische Sinneserweiterungen missbraucht. Hätte jemand wie Sie daran Interesse?«
»Sie wollen mir sagen, dass es hier Pfirsiche gibt, die Krebs heilen können und irgendwelche Spaten benutzen sie, um auf einen Trip zu kommen? Was ist mit Leuten wie mir?«
»Sie meinen Nicht-Millionäre?«
An Herr Lambert flogen die Erinnerungen der letzten Monate Doppelschicht und Überstunden vorbei, in denen er sich beinahe zu Tode gerackert hatte. Der Vorschlaghammer war in so greifbarer Nähe, doch er entschied sich seine Gedanken zu verwerfen und tief durchzuatmen.
»Ja, ich meine Leute, die nicht so viel Geld besitzen wie Barone, Oligarchen und multibillion dollar selfmade Männer.«
»Nein, das ist nicht der Ort für so jemand.«
»Warum bin ich dann hier?«
»Sie sind eine Ausnahme. Wir brauchen Sie für einen unserer wichtigsten Soirées.«
Baron Virgil faltete sein Einstecktuch so, dass es bei einer hektischen Bewegung nicht rausfallen konnte und verbeugte sich in einem sehr spitzen Winkel vor Herr Lambert. Im linken hielt er den Vorschlaghammer und seinen rechten Arm streckte er in die Richtung eines Korridors, in dem ausgestopfte Tiere zum Verkauf standen. In einem starken Bariton verkündete er, »hier entlang!«.
»Das ist ja super nett, aber Sie befinden sich in meiner ursprünglichen Wohnzimmerwand und eigentlich will ich nur meinen Vorschlaghammer wieder haben, damit ich die Wand einreißen kann.«
»Wollen Sie denn nicht wissen, was es hier noch so alles gibt?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich kann es mir nicht leisten und ich vermute mal, dass das meiste sinnloser Krempel ist.«
»Ich darf doch bitten. Herr Bozes hat eine atemberaubende Sammlung, die Sie nicht verpassen dürfen.«
»Krieg‘ ich danach meinen Vorschlaghammer und irgendwas von dem Krimskrams hier?«
»Bestimmt. Ich werde es persönlich anordnen.«
»Na schön, dann bringen wir das schnell hinter uns.«
Virgil drehte sich um 180° auf der Stelle und begann loszugleiten. Herr Lambert folgte dem Baron skeptisch und bestaunte die ungewöhnliche Gangart und die exorbitant-exotischen Exemplare. Sie gingen durch ein massives Lagerhaus, das feinsäuberlich geordnet war und an Schiffen, kleinen Bergen und sogar längst ausgestorbenen Tieren vorbei. Eine Absurdität übertraf die Nächste und Herr Lamberts Gefühle schwankten zwischen Erstaunen und Ekel.
»Was ist denn das?«
»Das ist eines unserer seltensten Angebote. Ein mit Gold umrahmter Harzblock, in dem die größte gemessene Lederschildkröte von Wanderameisen zersetzt wird. Alle Tiere waren bis zum Einguss im Harz noch am Leben, um die perfekte Grausamkeit der Natur einzufangen. Ich muss schon sagen, Sie haben ein sehr gutes Auge für die luxuriösen Güter. Dieses phänomenale Einzelstück kostet 23 Milliarden und ist eines unserer teureren Stücke,« erklärte der Baron, während er ohne Beachtung an dem Exponat vorbeiging.
Herr Lambert blieb regungslos stehen. Der Anblick, dass mehrere Ameisen das Fleisch so weit von einem lebendigen Tier fraßen, so das Teile des milchigen Skeletts offengelegt wurden, brachten ihn am ganzen Körper zum Zittern.
»Warum tut man sowas?«
Nun blieb Baron Virgil ebenfalls stehen und drehte sich zu Herr Lambert um.
»Sagen Sie mir, und seien Sie absolut ehrlich zu sich selbst, wenn ich Ihnen 20 Milliarden bezahlen würde, um so einen Moment eingefangen zu bekommen, würden Sie nicht dasselbe tun?«
Herr Lambert überlegte, ob er das wirklich tun würde. Der Baron drehte sich in seine ursprüngliche Position und ging weiter. Herr Lambert wiederum schaute der Schildkröte in die intakten unschuldigen Augen.
»Ein so schönes Geschöpf zerfressen von Tieren, die das niemals von sich aus anstreben würden. Eine Perversion der Natur. Hauptsache so einen hässlichen Goldrahmen hat das Teil. Nein. Egal ob 20 oder 40 Milliarden. Sowas tut man einfach nicht.«
»Kommen Sie bitte? Ohne mich werden Sie hier drin auch in einem Harzblock enden.«
Herr Lambert wandte sich verstört ab und lief dem Baron hinterher.
»Wir sollten am Orientierungsturm rechts gehen damit wir Sie noch etwas auflockern können.«
»Ich bin gerade nicht in der Stimmung, vielleicht sollten Sie mich wieder zu dem Loch in meiner Wand bringen und wir vergessen das alles einfach.«
»Nein, Sie sind zu weit gegangen und das können wir jetzt nicht mehr riskieren so kurz vor der Vorstellung. Hier nehmen Sie das!« Baron Virgil gab ihm seinen Vorschlaghammer zurück und wies mit seiner spitzen Nase zu einem riesigen Glasbehälter.
»Nur zu, lassen Sie ihren angestauten Frust raus!«
Herr Lambert riss den Hammer aus den Händen des Barons und fing sofort an auf die gigantische Glaskoppel einzuschlagen. Die Koppel begann zu vibrieren und die Wut in Herr Lambert wuchs. Sie wuchs und wuchs, doch dann erreichte Sie einen Punkt, an dem sie schlagartig zu Frustration wurde. Wie bei seinem Lenkrad schlug er solange au die Glaskoppel ein, bis seine Hände rot wurden. Erschöpft sank er auf die Knie.
»Warum kann ich diese verdammte Kuppel, denn nicht zerstören?«
»Dieses Glas wird durch jede Erschütterung stärker. Es ist perfekt entwickelt. Sie müssen wissen, dass Wut und Frust uns nicht immer weiterbringen. Wut bringt Ihnen nur für den Moment etwas, danach wird sie meist zu einem anderen Gefühl, das sehr unterhaltsam sein kann. Nehmen Sie also bitte Ihren Vorschlaghammer und seien Sie heute Abend unser Gast!«
»Ich habe meinen Vorschlaghammer, ich gehe jetzt wieder in meine Wohnung zurück.«
»Herr Lambert, Sie werden sich verirren und ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, dass wenn Sie es doch zum Loch schaffen werden, keines mehr da sein wird. Sie werden hier nicht mehr rauskommen und was mit ihrer Familie geschieht werden Sie auch nicht mehr feststellen können. Die Männer denen Sie gleich begegnen werden, haben mehr Macht als Sie es sich in ihrer mickrigen Welt vorstellen könne. Bitte machen Sie es uns beiden nicht so schwer und folgen Sie mir ohne Widerstand.«
Herr Lambert hatte sich völlig am Glas verausgabt und wollte nicht riskieren, dass seiner Familie etwas passieren könnte. Resigniert aber entschlossen schlurfte er mit seinem Hammer dem Baron hinterher. Er war sich sicher, dass es ihm noch nie im Leben so schlecht wie zu diesem Augenblick ging und er wischte sich mit dem rechten Ärmel eine Träne aus seinem Gesicht. Gerade als er weinen wollte, stoppte der Baron vor einer riesigen Tür.
»Hier entlang!«, sagte er und hielt die Tür auf.
Ohne Skepsis oder Widerstand ging Herr Lambert hindurch. Erst war es stockdunkel, doch dann wurde es immer heller, lauter, bunter. Sein Kopf begann zu Surren und er wurde mit einer Art Aufzug in einem rasanten Tempo nach oben befördert.
»Begrüßen Sie mit uns heute Abend den Star auf den wir alle gewartet haben. Zur alljährlichen Soiree von Herr Bozes haben wir keine Kosten und Mühen gescheut einen temperamentvollen Nicht-Millionär einzuladen. Doch seien Sie vorsichtig, denn dieser hat einen Vorschlaghammer.«
Die Menge jubelte, pfiff und ließ Korken in ihren Glasiglus knallen.
»Was zur Hölle?«
Herr Lambert stand auf einer Bühne vor einer Ansammlung aus kleinen Glaskuppeln, in denen immer nur eine Person zu sein schien.
»Wie ist ihr Name?«
»Mein Name ist Lambert.«
»Also Herr Lambert, dann erzählen Sie uns doch mal, warum Sie nicht so reich sind wie wir«, fragte Herr Bozes und lehnte sich in seinem Sessel nach vorne.
Tosendes Gelächter erschütterte den Saal.
»Nun ja, das weiß ich selbst nicht, schließlich arbeite ich schon nahezu mein Leben lang. Ich habe immer mein gesammeltes Taschengeld zur Bank gebracht und mir nie viel geleistet. Als wir beschlossen haben eine Familie zu werden…«
Die Leute fingen an zu buhen.
»Scheiß doch auf die Familie!«, ertönte es aus einer Ecke des Saales.
»Als wir beschlossen eine Familie zu werden, musste ich Doppelschichten übernehmen und habe mehr Überstunden gemacht. Ich weiß also nicht, warum ich nicht so reich bin wie ihr es seid.«
»Wir wissen es. Es ist ganz einfach, warum Sie so erbärmlich arm sind. Wir haben das Feuer der Finanzen verstanden, während ihr als Neandertaler von uns langsam gefressen werdet. Ihr wisst nicht was ETFs sind und wie man diese richtig nutzt, ihr versteht den wahren Sinn von Immobilien nicht, ihr seid zu weich für fremdfinanzierte Übernahmen und Insolvenzbetrug. Euer moralischer Kompass erlaubt keinen Steuerbetrug oder Lohndumping. Wer andere nicht ausbeutet, wird selbst irgendwann ausgebeutet. Ihr wollt globale Produkte, doch ihr seid nicht bereit zu externalisieren. Ihr wollt Karriere und Familie, Kinder und Firma, Yacht und Harmonie, doch das geht nicht ohne sich bewusst zu werden, dass man als guter Mensch keinen übermäßigen Erfolg haben kann. Wir sind das Produkt eurer Schwächen, doch genau deshalb haben wir keine. Unsere Welt wird von den Starken geführt. Skrupel oder Zweifel haben in einem starken Menschen nichts verloren.«
Ringsum erschallte tosender Applaus. Herr Bozes gab ein Handzeichen, dass sich die Leute beruhigen sollen. »Also Herr Lambert, was empfinden Sie bei dieser Wahrheit? Hass, Neid oder ist es Furcht?«
Ein explosionsartiger Beifall erfüllte erneut den Raum und Herr Bozes stand auf, um sich selbst anzufeuern und gab dann wieder eine besänftigende Geste.
»Ihr reichen Penner! Ich musste zusehen, wie mein Vater an Alzheimer stirbt und meine Mutter ihren Verstand verlor, weil sie es nicht ertrug, was aus meinem Vater geworden ist. Ihr pfeift euch so bekackte Pfirsiche rein und überlebt Krebs. Durch die Überstunden auf der Arbeit habe ich meine Familie zerstört und selbst, wenn ich diesen Lebensstil 300 Jahre aufrechterhalten würde, dann wäre ich immer noch nicht so reich wie ihr. Ihr zerstört Leben, unsere Welt und jede Hoffnung darauf, dass etwas besser wird, nur wegen einer eingebildeten Zahl. Wenn ich euch anschaue, dann empfinde ich dasselbe wie bei allem was einen sinnlosen Goldrand bekommen hat: Ekel.«
Die Personen in den Iglus begannen diese abzudunkeln und daraufhin ertönte im ganzen Saal hitziges Stöhnen.
»Sehr schön Herr Lambert, Sie sind seit langem mal wieder eine sehr gute Unterhaltung für uns. Mal sehen, wann Sie anfangen werden zu betteln, dass wir Ihnen helfen, weil Sie so unfair im Leben behandelt wurden. Ich habe ja auf zwei Stunden gewettet, also enttäuschen Sie mich nicht.«
Herr Lambert rannte mit seinem Vorschlaghammer auf die Kuppel von Herr Bozes in der Mitte des Saales zu und mit viel Schwung schlug er auf diese ein.
»Herr Lambert, was machen Sie denn da? Denken Sie nicht, dass der reichste Mensch des Jahrhunderts an alles gedacht hätte? Vielleicht benötigen Sie einfach mehr Wut? Wissen Sie, dass selbst wenn unsere Produkte auf der Welt für alle verfügbar wären, würde trotzdem ich entscheiden, welche Personen sie für welchen Preis erwerben dürften und welche nicht? Ich kann alle Menschen beeinflussen und formen. Jeder hat seinen Preis. Was ist Ihrer?«
Herr Lambert holte nochmal weit aus, um einen kräftigen Schlag mit dem Vorschlaghammer zu erzielen. Kein Kratzer. Das Glas wurde, wie bereits vorher mit dem Baron, nur fester.
Die Leute im Raum fingen an Herr Lambert auszulachen.
»Sind dein Papi und deine Mami gestorben, weil ihr zu unwichtig wart? Ihr seid nutzlos für unsere Gesellschaft, wenn einer von euch stirbt wird er einfach vom nächsten ersetzt.«, ertönte es aus einem Iglu in dem ein fetter alter Mann mit einer blondierten Asiatin saß.
Herr Lambert dachte an seinen höllischen Arbeitstag und wie er sich die letzten Jahre auf heute gefreut hatte. Heute sollte alles mit dem Anbau anders werden und jetzt das. Er sank zu Boden und stützte sich mit beiden Händen auf den Vorschlaghammer. Er schaute Herr Bozes in die Augen, doch diese waren so ausdruckslos wie zwei Gläser abgestandenes Cola. Keine Begierde, kein Verlangen.
»Jemand der alles hat, will noch ein bisschen mehr, in dem er anderen alles nimmt.« Herr Lambert rappelte sich auf und setzte erneut zum Schlag an, doch dieses Mal schrie er. Der Schrei kam vom innersten Punkt seiner Seele und war eine auditive Collage aus Wut, Verzweiflung und Erhabenheit. Jede einzelne Person im Raum hörte auf das zu tun, was sie gerade tat und wurde leise. Die Finne des Vorschlaghammers prallte auf die Glaskuppel ein, wodurch sie für einen kurzen Moment vibrierte und sofort darauf ebenfalls verstummte. Ein Riss entstand. Herr Lambert sah diesen und holte grinsend erneut zum Schlag aus. Herr Bozes sah diesen und rannte panisch in seiner Kuppel umher. Ungeschickt versuchte er eine Art Waffe aus einer angebrochenen Sektflasche zu erstellen. Die anderen Personen taten es ihm gleich und versuchten aus den kleinen Öffnungen ihrer Glaskuppeln zu entkommen, doch diese wurden von Bozes kontrolliert, der viel zu sehr damit beschäftigt war, seine eigene Haut zu retten.
»Security? Hier spricht Herr Bozes, ich weiß, dass ich befohlen habe alle Geräte auszuschalten und den gesamten Abend nicht gestört werden möchte, aber das hier ist ein Notfall. Hallo? Hören Sie mich?«
»Herr Bozes, was empfinden Sie bei dieser Situation? Hass, Furcht oder ist es Arroganz?«
»Hören Sie auf Herr Lambert, das war doch nur ein Scherz. Ich gebe Ihnen eine Verschwiegenheitserklärung und bezahle Sie bis zu Ihren Urururenkeln aus. Was halten Sie davon?«
»Ich weiß es nicht, aber ich denke wir werden gleich herausfinden, ob ich Skrupel besitze.«
Das Glasiglu zerbrach und Herr Bozes ging, ausgerüstet mit seiner spitzen Sektflasche, hinter seinem Sessel in Deckung. Die Menschen in den anderen Iglus klebten gespannt mit ihren Nasen am Glas und konnten ihren eigenen Augen nicht trauen. Herr Lambert setzte erneut mit dem Vorschlaghammer zum Schlag an.
»Herr Lambert das ist doch Wahnsinn! Sie sind kein Mörder. Denken Sie an Ihre CD und ihre Prinzipien als Mensch! Wir sind ruhig und erkennen, dass wir diesem hilflosen Menschen nicht schaden wollen. Haben Sie das etwa schon vergessen?«
Herr Lambert hielt kurz Inne.
»Sie haben Recht Herr Bozes, Sie können Menschen formen aber nicht jeder Mensch hat seinen Preis.«
Herr Lambert holte erneut aus und schlug zu, wodurch das poröse Mauerwerk auf den Boden bröckelte. Er stellte den dreckigen Vorschlaghammer ab und ging hinaus. Gedanken verloren schaute Herr Lambert in den Briefkasten und entdeckte die Rechnung des Architekten. Mit seinem Mittelfinger schlitzte er das Couvert auf, las den Betrag, der verlangt wurde und stieg in sein Auto. Als er losfuhr flog die Rechnung und die Entspannungs-CD aus dem Fenster. Als es wieder geschlossen wurde, brach das hereinfallende Licht so auf die Energydrinkdosen, dass der Pfirsich aus dem „Gold market“ darin glitzerte.
Text: Daniel Engel (ZeBlog)
Illustration: Elissa Engel